LuSh – Ausgabe 01/2022 – Dies und Das – Sprach-Trends
Sprach-Trends
Beschreiben – erklären – reflektieren – strategisch handeln – Wirkung erzielen
Einleitende Bemerkungen
Die aktuelle Corona-Krise sowie die gesellschaftlichen, ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen haben unsere Kommunikation, die Medien und damit auch unsere Gegenwartssprache erreicht. Wir befinden uns mitten im Sprachwandel. Betroffen sind die gesprochene Sprache mit individuellen Sprechgewohnheiten und gruppenbezogenen Sprechweisen und die Schrift mit Lesekompetenz und diversen Schreibungen. Die konkrete Bearbeitung dieser Sprach-Trends wird nicht dem Fach Deutsch oder dem Sprachunterricht übertragen, sondern einem strategisch ausgerichteten Handlungskonzept. Wir sollten die neuen Sprach-Trends mit dem Erstklässler der Grundschule und Förderschule, dem Siebtklässler der Gemeinschaftsschule und dem Zwölftklässler der Fachoberschule und des Gymnasiums besprechen, und zwar über alle Fächer, Klassenstufen und Schulformen hinweg. Genau diesen strategischen und mehrperspektivischen Ansatz verfolgt der Beitrag. Der amerikanische Sozialpsychologe Jérôme Bruner vertritt die These, dass jeder Lernstoff und Inhalt jedem Schüler und jeder Schülerin auf jeder Entwicklungsstufe in sachlogisch einwandfreier und intellektuell redlicher Weise wirksam beigebracht werden kann. Wichtig ist, dass wir die Schüler*innen ernst nehmen, in diese Diskussionen um die Sprach-Trends einbeziehen und nicht „top down“ definieren, was gelehrt und was nicht unterrichtet wird.
Ideen und Erkenntnisse
- Sprache: Sprache ist komplex, eine einfache Definition ist nicht möglich. Sprache spiegelt, schafft und verändert die Wirklichkeit. Sie ist ein definiertes, konventionelles und kulturbezogenes Zeichensystem. In unserer Sprache spiegeln sich das Weltbild und Menschenbild wider. Für den Menschen als Persönlichkeit und soziales Wesen sind folgende Funktionen wichtig (vgl. Heidtmann 1999, 281): die kommunikative Funktion (Verständigung, Austausch), die bildende Funktion (Wissen, Werte), die soziale Funktion (Miteinander, Teilhabe), die kognitive Funktion (Denken, Verstehen) und die persönlichkeitsbildende Funktion (Selbstfindung, Identität).
- Sprache, Wissen, Handeln: Die soziale Realität wird durch das Handeln der Menschen konstruiert. Dabei unterstützen die Sprache und die Schrift das soziale Handeln. In interaktiven Praktiken werden soziale Wirklichkeiten konstruiert, indem die handelnden Akteure Handlungsroutinen anwenden und auftretende Probleme durch das Erzählen von Geschichten lösen und Sinn stiften. In diesen vielfältigen und dynamischen Interaktionsprozessen wird Wissen produziert. Diese Produktion von Wissen basiert vor allem auf sprachlichem Wissen. Der Sinn sprachlichen Wissens ergibt sich aber immer nur aus seinem konkreten Gebrauch heraus, d. h. neue Sprach-Trends können daher immer nur in der konkreten Situation des Unterrichts und im gesellschaftlichen Kontext des Alltags heraus beleuchtet werden.
- Fähigkeitsansatz: Wenn wir uns mit den neuen Sprach-Trends im Unterricht auseinandersetzen, dann sollten wir nicht nur nach den definierten Vorgaben, Erwartungen und Standards fragen, sondern ebenso nach den Möglichkeiten und Spielräumen Ausschau halten, die im weiteren schulischen Bildungsgang ermöglicht werden. Der Fokus liegt in Anlehnung an den Capability Approach von Sen (2010) auf der einem Menschen zur Verfügung stehenden Menge an differenten Handlungsweisen und Daseinsformen, die den Schülern ein erstrebenswertes sinnerfülltes und zufriedenes Leben bereitstellen. Wir wollen mit den neuen Sprach-Trends positiv und konstruktiv umgehen, nach den Handlungsspielräumen und Strategien des einzelnen Schülers fragen und dem Motto folgen: „Da geht noch was, da ist auch noch Luft nach oben.“
Vorliegende Befunde
Wenn wir uns den Befunden zuwenden, dann sollten wir wissen, dass die Begleit- und Wirkungsforschung erstens nur sehr wenige Studien durchgeführt hat und zweitens die Resultate sehr ernüchternde Ergebnisse zeigen. Die allgemeine Sprachförderung der letzten Jahrzehnte innerhalb und außerhalb des Unterrichts sowie die logopädische Sprachtherapie haben nach Waldemar von Suchodoletz keine oder nur sehr geringe Erfolge erbracht. Das ist ernüchternd und wird jedoch kaum publiziert. Wir wollen die empirische Evidenz von der anekdotischen Evidenz trennen, aber betonen, dass die anekdotische Evidenz stärker berücksichtigt werden sollte, als dies bisher der Fall war.
Empirische Befunde machen deutlich, dass wir seit Jahren, ja seit Jahrzehnten hinsichtlich der Vermittlung der Fähigkeiten und Kompetenzen hinsichtlich des Sprechens, Lesens und Schreibens auf der Stelle treten. Die Zahlen, Daten und Fakten sind sozusagen „festgetackert“: Zwischen 20 und 30 % der eingeschulten Kinder haben Probleme mit der Sprache und dem Sprechen, ihnen fehlen offenbar die Worte, jeder vierte Grundschüler verlässt die Grundschule mit einer Rechtschreibschwäche, mehr als 20 % der 15-jährigen Jugendlichen besitzen keine altersadäquate Lese- und Schreibkompetenz und circa 6 bis 8 Millionen erwachsene funktionale Analphabeten leben zurzeit in Deutschland. Dennoch gibt es immer wieder positive Meldungen: Heutzutage wird in Deutschland so viel und so gut gelesen und geschrieben wie nie zuvor! Das mag quantitativ durchaus zutreffen, doch werden fast nur kurze Sätze oder Textpassagen als SMS oder Chat gelesen und geschrieben, kaum ein Buch wird gelesen und die Aspekte Rechtschreibung, Zeichensetzung sowie Schreibstil werden kaum berücksichtigt und bewertet. Das Motto „Schreib, wie du sprichst!“ scheint Schule zu machen; jedenfalls ist hier auch ein neuer Sprach-Trend zu erkennen.
Die anekdotische Evidenz der Lehrer*innen und pädagogisch Verantwortlichen sagt uns aber auch: Das Diktat von vor 20 oder 30 Jahren können wir heute in der Grundschule nicht mehr schreiben! Wir sollten die empirische Evidenz und die anekdotische Evidenz bündeln, dann kommen wir näher und gezielter an die Probleme heran. Diese Befunde und praktischen Erfahrungen sollten wir nicht überbewerten und eine negative Grundstimmung verbreiten, wir sollten sie aber auch nicht „unter den Teppich kehren“. Im Unterricht haben wir doch damit Tag für Tag zu „kämpfen“!
Und vielleicht noch ein Gedanke: Seit einem halben Jahrhundert stagnieren nicht nur die oben genannten Zahlen, wir haben es bisher in der Forschung, in der Wissenschaft und in der Praxis nicht geschafft, die Sprache, das Sprechen, das Lesen und Schreiben zu verbessern und die Schwächen und Defizite zu beseitigen. Wir haben kein Erkenntnisproblem, wir haben ein Umsetzungsproblem, insbesondere in den ersten Schuljahren. Wir sollten doch wissen und endlich begreifen, dass jenseits der Pubertät bei den betroffenen Schüler*innen keine entscheidende Verbesserung der Rechtschreibkompetenz mehr zu erreichen ist.
Neue Sprach-Trends
Die deutsche Sprache ist unter den circa 7000 existierenden Sprachen die meistgesprochene Muttersprache in der Europäischen Union und wird zu den wichtigsten Sprachen weltweit gezählt. Mit 120 Millionen Sprechern steht sie auf Rang zehn und gehört zu den Top Ten. Als eine lebendige Sprache befindet sie sich im ständigen Wandel, passt sich immer wieder neuen kommunikativen Bedürfnissen, wirtschaftlichen Notwendigkeiten und gesellschaftlichen Veränderungen an. Die zunehmende Globalisierung, die Verkettung der Wirtschaftsmächte, der Massentourismus, die erhöhte Mobilität, die neuen Medien, die in Bewegung geratenen Kulturen und Kontinente sowie die Kunstszene und die Unterhaltungsmusik beschleunigen den Sprachwandel und bringen immer wieder neue Sprach-Trends hervor.
(1) Wir müssen die Zügel anziehen!
Der Gebrauch von Metaphern ist gerade in der heutigen Zeit der Katastrophen und Krisen bei Politikern und Werbepsychologen beliebt, weil sie versuchen, über bildliche Ausdrücke an die Wähler*innen bzw. Kund*innen zu kommen. Der Begriff ist dem Griechischen entlehnt und bedeutet die Übertragung eines Wortes in einen bildlichen Ausdruck, wörtlich übersetzt „das Weg- und Anderswohintragen“. Der Bedeutungsumfang wird erweitert und sein Ausdruck verstärkt. Metapher ist eine bildhafte Übertragung der Bedeutung, wie z. B. „Frühlingsboten“ für Schneeglöckchen. Die Metapher kann ein Wort (Kompositum), eine Wortgruppe, eine Redewendung oder auch zwei Sätze umfassen.
Die Schüler*innen werden ja nicht nur im Unterricht, sondern auch außerhalb der Schule mit metaphorischen Sprech- und Schreibweisen konfrontiert. Nehmen wir doch nur als konkretes und zeitnahes Beispiel die Ansprachen und Reden der verantwortlichen Politiker*innen zu Weihnachten und Neujahr. In diesen Ansprachen werden in der erwachsenen Gegenwartssprache alle Bürger*innen angesprochen und frohe Weihnachtsgrüße sowie friedliche Botschaften für das neue Jahr übermittelt. Dabei fällt in diesen Reden „zwischen den Tagen“ bzw. „zwischen den Jahren“ immer wieder eine blumenreiche, mit bildlichen Ausdrücken reich geschmückte, teilweise kleinkindhafte, romantisierende Sprache auf. Bilder werden in Wörtern und Redewendungen erzeugt und verursachen teilweise eine Verschiebung der eigentlichen Urbedeutung. Metaphern und Aphorismen werden gern benutzt.
Immer wieder hören und lesen wir in den Medien und aktuellen Nachrichtendiensten wie Rundfunk und Fernsehen unterschiedliche Metaphern. Die verantwortlichen Politiker wollen uns Bürger*innen mitteilen, dass es so nicht weitergeht und wir unsere Verhaltensweisen ändern müssen. Hier geht es um die Vermittlung von Bildern, da sich Bilder im Langzeitgedächtnis nachhaltig lange halten und im Gehirn regelrecht eingebrannt werden. Der Sammelbegriff Metaphorik bündelt die Vielzahl der möglichen und gebrauchten Metaphern in der gesprochenen und geschriebenen Sprache. Eigentlich ist der Gebrauch einer Metapher beim Schreiben eines Textes durchaus sinnvoll und zielführend, doch für Schüler*innen je nach Alter, Klassenstufe, sozialer Herkunft und Bildungsstand nicht immer auf Anhieb zu erkennen, weder die Bedeutungserweiterung noch die Verstärkung der expressiven Gestalt (vgl. Lewandowski 1990). Der Schüler erkennt diese Transferleistung, dass nämlich ein Ausdruck durch einen anderen ersetzt wird, insbesondere dann nicht, wenn er Migrationserfahrungen mitbringt oder Sprachschwierigkeiten aufweist. Im heutigen Sprachgebrauch werden Metaphern sehr häufig benutzt, wie z. B. bei der Regierungsbildung die Metapher „Ampel“, oder in der Corona-Pandemie heißt es, wenn die Menschen sich nicht an die Regeln und Maßnahmen halten: „Wir müssen die Zügel anziehen.“ Hier entsteht das Bild, dass die Politiker uns top-down sagen wollen, was wir zu tun haben und wo’s langgeht.
Anregungen für den Unterricht:
Drucken wir doch die aktuellen gehaltenen Weihnachts- oder Neujahrsansprachen aus und legen wir den Schüler*innen die Texte zur gründlichen Analyse vor. Dann können sie gezielt „bildliche Ausdrücke“ als Metapher identifizieren, die Sprache reflektieren und erkennen, ob das angestrebte Ziel des sprechenden Politikers auch erreicht wird. Wir sollten den Schülern auch vermitteln, dass diese Reden und Ansprachen von Schreibern geschrieben werden, mehrfach überarbeitet und von den Politikern vorgelesen werden. Die „Metapher-Strategie“ kann sich auf formale und inhaltliche Aspekte beziehen und Metaphern als Wort, als Wortgruppe oder Redensart mit den folgenden Operatoren aus dem Text herausarbeiten: „Identifizieren“, „Markieren“, „Besprechen“, „Reflektieren“ „Bedeutungswandel erkennen“, „Diskutieren“ und „Verstehen“.
(2) Pop-up-Impfzentren, Overkill-Kommunikation und Zoom-Fatigue
Zurzeit begegnen wir bedingt durch die verschiedenen Krisen der letzten Jahre (Migrantenkrise, Klimakrise und Corona-Krise) zahlreichen Wortneuschöpfungen und vielen Fremdwörtern einem regelrechten Fremdwörterboom. Die größte Gruppe sind die Anglizismen, d. h., englische Begriffe werden im öffentlichen Leben und damit in unserer täglichen Sprache übernommen, gerade jetzt in der aktuellen Corona-Pandemie. Das trifft auch für die Überschrift „Neue Sprach-Trends“ zu: Das Substantiv Trend (engl. to trend = sich zeigen, sich erstrecken, in eine bestimmte Richtung laufen) wird dabei verstanden als Richtungsvorgabe der aktuellen Entwicklung, d. h. Tendenzen im Bereich der Sprache und des Sprechens. Wir erleben Tag für Tag Jugendliche in der Schule und auf dem Schulhof beim Spielen mit dem Handy oder Smartphone. Sie simsen, chillen, chatten, klicken und teilen. Nicht alle Schüler*innen in den Schule wissen, was sich hinter diesen Begriffen versteckt, doch diese und weitere Wörter sind Bestandteil unserer Sprache und Jugendkultur geworden. Wird die deutsche Sprache mit Anglizismen überfrachtet und müssen wir dagegen im Unterricht ankämpfen? Die Germanistin Karin Pittner beobachtet die Entwicklung der Sprache sehr aufmerksam und kommt zu dem Ergebnis, dass gerade Anglizismen eine Bereicherung unseres Wortschatzes darstellen. Im Duden sind bereits eine Fülle solcher Anglizismen angekommen: „Soft Skill“, „Whistleblower“ oder „Gender-Mainstreaming“. Schon immer haben sich Wörter aus anderen Sprachen in den deutschen Wortschatz eingeschlichen und etabliert. Nehmen wir doch nur das zurzeit überstrapazierte Wort Test (Testzentrum usw.). Test stammt aus der englischen Sprache und bedeutet Probe und Prüfung. Wir haben das Wort seit Jahrzehnten ohne große Kritik vermutlich gedankenlos und unbewusst übernommen und „eingedeutscht“. Wir sollten gelassener und ruhiger mit solchen Entwicklungen umgehen. Manches ist nicht aufzuhalten und vielleicht auch gut so, wie es ist. So können wir auf Johann Wolfgang von Goethe verweisen, der sinngemäß gesagt hat, dass die Stärke einer Sprache nicht darin bestehe, dass sie immer wieder fremde Wörter abweise, sondern sie regelrecht „verschlinge“. Mittlerweile ersetzen viele Anglizismen deutsche Wörter, ohne dass wir uns darüber aufregen. Ebenso werden neue Anglizismen in die Sprache und den Wortschatz eingeführt, für die es bisher noch keine Bezeichnung gab, wie z. B. „Booster“ oder „boostern“. Diese Begriffe sind der internationalen Forschungssprache entnommen und sind eine Bereicherung des deutschen Wortschatzes, weil wir nicht immer adäquate Wörter im Deutschen finden. Der Linguist und Grammatiker Peter Eisenberg betrachtet die Fremdwörter als Wörter der deutschen Sprache und für einige Anglizismen finden sich keine passenden deutschen Wörter wie für Laptop oder Computer. Und er fügt hinzu: „Wörter sind weder gut noch böse. Schlecht oder kritikwürdig kann nur der Gebrauch sein, der von Wörtern gemacht wird.“ Eine umfangreiche Untersuchung zu den Anglizismen der deutschen Gegenwartssprache hat ergeben, dass der größte Teil von ihnen nicht entlehnt, sondern im Deutschen gebildet wurde, wie z. B. die Komposita Babyalter, Baseballfeld oder Businessplan. Daher scheint es sinnvoll, im Unterricht eine zeitgemäße realistische Strategie zu entwickeln, die den Schülern mit auf den Weg gibt, dass die deutsche Sprache beim Gebrauch von Anglizismen nicht von Zerfall, Verarmung oder Überfremdung bedroht ist. Die deutsche Sprache als eine der großen Universalsprachen besitzt eine starke Grammatik, einen weit ausgebauten und differenzierten Wortschatz und so vielfältige Verwendungsweisen wie wenige andere Sprachen.
Anregungen für den Unterricht:
Zunächst sollten wir die Situation so nehmen, wie sie ist: Die Fremdwörter aus anderen Sprachen haben sich im Wortschatz und Sprachgebrauch etabliert; die größte Gruppe sind Anglizismen. Bleiben wir gelassen und betrachten wir die Sache positiv. Wir befinden uns im Unterricht doch in einer „glücklichen“ Situation: Die Kinder und Jugendlichen aller Altersstufen verwenden doch nicht wenige Fremdwörter – bewusst oder unbewusst –, insbesondere Anglizismen, wie z. B. in der Musik, den neuen digitalen Medien und in ihrer Jugendsprache. Daran sollten wir im Unterricht anknüpfen. Wir sollten ihnen die Sprache durchsichtig machen, im Unterricht „auf den Präsentierteller legen“, denn gerade die Transparenz führt zur Reflexion. So weist Monika Budde zu Recht darauf hin, dass es wichtig ist, über die Sprache zu reflektieren, gerade beim Unterricht in sprachheterogenen Lerngruppen. Wir brauchen eine kritische „Fremdwort-Strategie“ mit den Operatoren „Nachdenken über Sprachen“, „Sprache transparent machen“ und „Wissen über Wortbedeutungen und Wortstrukturen“. Wenn diese Strategie vermittelt wird, dann hören die Schüler aufmerksam zu und reißen den Lehrenden dieses Wissen regelrecht „aus den Händen“.
(3) Alternative Fakten, Spoilern,, Willkommenskultur und Overkill-Kommunikation
In den Medien hören und lesen wir Tag für Tag gerade in der Corona-Pandemie Wortneuschöpfungen, Fach- und Kunstwörter, die uns immer wieder selbst überraschen. Die Textverantwortlichen wollen sich prominent machen, sich von anderen abheben, Wissenschaftlichkeit suggerieren und durch den Hauch der Exklusivität beeindrucken. Mit dieser Entwicklung sollten wir sehr kritisch umgehen und die Frage stellen: Ist das überhaupt geboten und notwendig? Das schafft immer wieder Ärger beim täglichen Lesen und Verständnisprobleme in der Kommunikation mit anderen Personen. Wer beispielsweise eine Matratze für ein Bett sucht, muss in manchen Fachgeschäften nach einem Schlafsystem fragen.
Im Gegensatz dazu ist aber die Fachsprache in einzelnen Schulfächern und Wissenschaftsdisziplinen unumgänglich. Sie ist auf einen fachlich begrenzten Kommunikationsbereich zugeschnitten. In und mit der Fachsprache kommunizieren Sprecher innerhalb einer Fachgemeinschaft und benutzen einen fachspezifischen Wortschatz, komplexe Begriffe und verwenden unpersönliche Formulierungen (Nominalstil, Passivkonstruktionen). Der Fachbegriff in der Fachsprache bedeutet, dass die in diesem Sektor benutzte Sprache als Technolekt Gültigkeit beansprucht. Die Fachsprache gehört zwar zur großen Kategorie der Fremdwörter, unterscheidet sich jedoch nach Lewandowski (1990) durch Fachausdrücke von der Umgangssprache und Standardsprache. Beispiele sind: die medizinische Fachsprache, die virologische Fachsprache, die juristische Fachsprache, die ökonomische Fachsprache, die Wissenschaftssprache, die Fachsprache der Handwerker, der Techniker, der Ingenieure, der Lehrer*innen, aber auch die Fachsprachen im Freizeitbereich wie z. B. die „Fußballersprache“, „Pilotenjargon“ oder die „Bienenzüchtersprache“.
Fachsprachen haben zur Zeit der Katastrophen und Krisen Hochkonjunktur und gewinnen immer mehr an Bedeutung. Wir registrieren aktuell mehrere Technolekte, die in den Medien dominieren. Beeindruckend sind dabei die Geschwindigkeit, mit der sich neue Termini etablieren, der quantitative Umfang des Wortschatzes (Zunahme um über 1000 Wörter während der Corona-Pandemie) und die immer geringer werdende Halbwertzeit der Fachbegriffe. Zurzeit sind wir alle hautnah an der Erforschung des Coronavirus beteiligt. Tag für Tag bringen die Virologen, Mediziner, Epidemiologen und Physiker neue Fachbegriffe und Bezeichnungen hervor, die meist aus dem Lateinischen entlehnt sind wie z. B. Inzidenz oder Quarantäne. Natürlich gibt es Verwirrungen, Sprachbarrieren und Verständnisschwierigkeiten bei Schüler*innen, die kein Englisch sprechen und verstehen. Wir beobachten und nehmen wahr, dass die Sprache der Werbung und des Marketings zuweilen über das Ziel hinausschießt. So werden Kunstbegriffe gebildet wie „Bedachungssystem“, „Schlafsystem“ oder „Duftlösungen aus der Parfum-Manufaktur“. Jetzt wird der Begriff System auch in pädagogischen Zusammenhängen und Begriffen benutzt wie z. B. „das digitale Unterrichtssystem“ mit weiteren Informationen unter: www.bibox.schule. Mit „Corporate Language“ suggerieren sie Wissenschaftlichkeit und Exklusivität und wollen bewusst Menschen ausgrenzen und andere abschotten. So breitet sich das „Wirtschaftsdenglisch“ aus mit Begriffen wie „Compliance“ und „Synergieeffekte“. Mit diesen gekünstelten, aufgeblähten und englischdurchsetzten Begriffen hat die Sprachverwirrung ihren Höhepunkt überschritten. Die kommunizierten Botschaften verwirren mehr, als dass sie an die Menschen rankommen.
Hilfestellung:
Schule und Unterricht in allen Fächern können sich diesem Boom nicht entziehen. Die Schüler*innen sollten den Problemzusammenhang von Fachsprache und Gegenwartssprache, d. h. der Experten einerseits und der unverständlichen Wörter andererseits, erfahren und diskutieren. Das Problem besteht darin, dass die Fachsprache nur einen kleinen begrenzten Kreis der Sprachgemeinschaft erreicht. Die Schüler*innen sollen jedoch erkennen und verstehen, dass wir ohne den Gebrauch der Fachbegriffe und der Fachsprachen in unserer heutigen Welt nicht klarkommen. Von daher sollten wir den Eindruck vermitteln, dass solche Fachbegriffe notwendig sind, diese aber im Unterricht aufgeklärt und erhellt werden sollten.
Im sprachsensiblen Fachunterricht nach Josef Leisen geht es um die Bewältigung der aktuellen Anforderungen in bestimmten Fächern. Kenntnisse über die besondere Lernsituation und die sprachlichen Voraussetzungen sind zur Umsetzung dieses Unterrichts notwendig. Die besondere Aufmerksamkeit gilt der Sprache und den sprachlichen Möglichkeiten der Schülergruppe. Die Reflexion über die Sprache und insbesondere über die Fachbegriffe ist von der Lehrkraft vorbereitend zu leisten. Wir sollten den Fachbegriffen im wahrsten Sinne des Wortes „auf den Grund gehen“. Gefragt ist eine „Fachbegriff-Strategie“ mit wichtigen Operatoren. Der Duden hat ein Herkunftswörterbuch „Etymologie der deutschen Sprache“ in der 6. Auflage zum „Nachschlagen“ auf den Markt gebracht. Aber in der heutigen Zeit wird das „Googeln“ favorisiert, wobei die durchgeführten Recherchen nicht immer und nur seriöse Informationen zutage fördern. Hier gilt es, Fake News zu erkennen, zu entlarven und Falschinformationen nicht „auf den Leim zu gehen“. Wir sollten den Schüler*innen eine gute Mischung aus „analogem Nachschlagen“ und „digitalem Recherchieren“ beibringen, so können wir Informationen gegenseitig überprüfen und Fake News entlarven. Gerade bei der Behandlung von Fachbegriffen im Unterricht ist es wichtig, den Schüler*innen das „Etymologisieren“ beizubringen, d. h. zu erklären, woher ein Wort stammt und was es bedeutet. Im Übrigen fördert das Lesen allgemein die Lesefähigkeit, das Wissen, die Kreativität und Fantasie und speziell den Wortschatz und Satzbau.
(4) Isch Kino – Komm gleisch mo bei misch?
Wir wollen zum einen aktuelle Sprechgewohnheiten bzw. Sprechweisen in unterschiedlichen Situationen, Settings und Kontexten näher betrachten und zum anderen auffallende Schreibweisen und ungewöhnliche Textproduktionen exemplarisch auswählen und näher beleuchten.
Sprechgewohnheiten
Beim Sprechen stellen wir von Person zu Person und Typ zu Typ unterschiedliche Sprechweisen fest. Es gibt Unterschiede hinsichtlich des Auftretens, der Lautstärke, des Sprechtempos, der Betonung, beim freien Reden und gebundenen Vortrag. In den Familien, Kitagruppen, Peergroups, der Klassengemeinschaft, der Fußballmannschaft, in größeren gesellschaftlichen Gruppierungen und der Gesellschaft stellen wir neue, z. T. nicht so gut bekannte Sprachvarietäten fest, die lokal und regional begrenzt sind. Diana Marossek hat die Sprachvarietät „Migrantendeutsch“ in einer umfangreichen Studie zum Wie und Warum des Sprachgebrauchs von Migrant*innen mit dem Titel „Alter, gehst du Bus?“ untersucht. Manche Autoren sprechen von der „Kiezsprache“, „Assisprache“, „Migrantensprache“ oder „Ghettosprache“. Dabei geht es nicht um Kinder und Jugendliche mit Migrationserfahrung, sondern um deutsche Kinder und Jugendliche, die in Großstädten wie Berlin geboren und deutsche Muttersprachler sind. Interessant ist, dass auch in deutschen Dialekten wie dem Berlinerischen die Artikel und Präpositionen falsch benutzt oder gar ausgelassen werden. Ein wichtiger Aspekt ist die Kontraktion: In der Sprachwissenschaft verbindet sie die beiden Satzbausteine Artikel und Präposition zu einem Wort, wie z. B. aus dem Satz „Ich gehe zu dem Bus“ wird „Ich gehe zum Bus“. Dies fällt bei den Sprachbeobachtungen auf und es ist auch das Stilmittel zur Beschreibung dieser Sprechweise. Wir sollten aber wissen, dass es Unterschiede gibt zwischen dem Türkischen, dem Berlinerischen und der Jugendsprache. So kennt das Türkische weder einen Artikel noch Präpositionen; das Substantiv erhält lediglich ein Anhängsel, ein Suffix. Bei Kindern und Jugendlichen mit türkischer Muttersprache ist das eine Erklärung, doch warum sprechen Schüler mit deutscher Muttersprache diesen „Fehler“? Hierbei gerät die Jugendsprache in den Fokus der Betrachtungen, da die Sprechweise und Kommunikation in erheblichem Umfang von der Erwachsenensprache abweicht. Die Jugendsprache (wird auch als Lebensalter-Sprache bezeichnet) mit ihren eigenen Sprachgewohnheiten vermischt Anglizismen, dialektale Ausdrücke und bildliche Ausdrucksweisen. Die Sprachgewohnheiten und der situative Sprachgebrauch vieler Schüler setzen sich aus der dialektalen Varietät, die wir auch in anderen Großstädten und Regionen finden, den rudimentären Kenntnissen des Standards und ethnolektalen Varietäten zusammen. Sprache ist in der Tat sehr komplex, vielfältig, omnipräsent und omnipotent.
Hier kann der Unterricht eine Zuhör-Strategie entwickeln, die das Zuhören gesprochener sprachlicher Äußerungen ermöglicht. Dazu ist eine Tonaufnahme (Handy, Smartphone) notwendig, die dann mehrfach unter bestimmter Aufgabenstellung abzuhören ist. Es geht darum, zum einen den persönlichen, individuellen Hörkreislauf zu schulen, d. h., „ich höre mich beim Sprechen selbst“, und beim wiederholten Abspielen der Aufnahme den interpersonellen Hörkreislauf zu schulen, d. h., „ich höre das Sprechen meines Gesprächspartners oder der anderen Schüler“. Weiterhin können bestimmte Aufgaben gestellt werden, wie z. B. Stimme (Frauenstimme, Männerstimme, kranke Stimme, gesunde Stimme, Kinderstimme, Erwachsenenstimme), klare Aussprache (Verständlichkeit, Klarheit), korrekte Grammatik (Satzkonstruktionen), bewusste Betonung (Sprechmelodie), Sprachvarietät (Standardsprache, Jugendsprache, Dialekte) usw. Vielleicht passt hierzu auch der Gedanke und das Zitat des Kommunikationswissenschaftlers Paul Watzlawick (1986): „Ich weiß erst, was ich gesagt habe, wenn ich die Antwort meines Gegenübers gehört habe.“ Sinn lässt sich nach Sühlsen (2015, 254) erst durch die Folgeäußerung spezifizieren, d. h., das Folgende bestimmt, was gerade passiert. Der Hörer entscheidet darüber, was gesagt wurde, nicht der Sprecher! Über die Wirkung des Gesagten machen wir uns oft keine oder zu wenige Gedanken.
Kommunikation in digitalen Videomeetings
Unsere Kommunikation verlagerte sich im vergangenen Jahr zu einem großen Teil ins Digitale. Im Job wurden Meetings im Homeoffice durchgeführt, E-Learning und Homeschooling haben im schulischen Kontext einen breiten Raum eingenommen. Der Autor kann hier auf intensive und ausführliche Erfahrungen zurückgreifen. Die Art und Weise der zwischenmenschlichen Kommunikation hat sich zum Teil erheblich verändert. Stimme und Sprechweise sind jetzt in der immer wiederkehrenden Online-Situation mehr gefordert. Die Teilnehmer*innen sitzen an verschiedenen Orten, Akustik und Bild sind meist von der Technik sowie Internetanschlüssen abhängig. Der Zugriff auf unsere Körpersprache ist nur sehr begrenzt oder nicht möglich. Heike Heinemann (2021, 71) hat auf die Unterschiede zwischen analoger und digitaler Kommunikation hinsichtlich des Sprechens aufmerksam gemacht. Die Distanz ist größer, der direkte Blickkontakt fehlt, d. h., entweder schauen wir in die Kamera und sehen nur eine Linse oder wir schauen auf den Bildschirm und sehen die Köpfe der anderen Teilnehmer*innen. Der Blick wirkt allerdings gesenkt, da sich die Kamera am oberen Bildschirmrand befindet. Ein wichtiger Punkt ist der neue Begriff „Zoom-Fatigue“, d. h., die Interaktionen über Videokonferenzen führen zu einer schnelleren Ermüdung als in der Face-to-Face-Kommunikation. Diese gefühlte Ermüdung konnte durch schwedische Studien nachgewiesen werden (De Witte 2021). Auch das Abrücken vom gekachelten Mosaikbild aller Teilnehmer*innen, wo wir 20 oder 30 Köpfe sehen, kann nicht zu einem gemeinsamen sozialen Gesprächsraum führen. Da ist die Gruppenarbeit von vier bis sechs Teilnehmer*innen in den einzelnen Konferenzräumen eine wohltuende Abwechslung. Immer wieder kommt es auch während des Sprechens oder des Dialogs zu Feedbackgeräuschen („mmh, ja“) wie Brummen und Interjektionen – gewollt oder nicht gewollt. Das aktive und aufmerksame Zuhören ist online kaum möglich, führt zudem zu Verunsicherungen hinsichtlich des Gesprächsverlaufs und des Einholens des Rederechts. Die Raumwahrnehmung ist eine andere, die Stimmen gehen direkt ins Ohr, die gesamte Raumakustik fehlt. Gesten und körpersprachliche Reaktionen sind nicht mehr in Gänze sichtbar. Technische Unzulänglichkeiten stören die Kommunikation immer wieder: Die Verzögerungen im Bild-Ton-Verhältnis erfordern einen erhöhten Energie- und Konzentrationsaufwand. Es ist daher nicht sinnvoll und wirksam, Aufgaben parallel zum Meeting oder gar Multitasking zu vermeiden. Wir müssen einfach mehr Pausen einplanen und kürzere Unterrichtseinheiten planen und anbieten. Dann gilt es in den Pausen, den ganzen Körper zu bewegen, frische Luft und Atemübungen können hier weiterhelfen. Um die Beziehungsebene zu pflegen und zu stärken, ist es sinnvoll, vor dem Meeting oder der Konferenz Raum und Zeit einzuplanen für Small Talk, zwanglose und informelle Gespräche im Sinne eines Warm-ups.
Schreibungen im Chat über verschiedene Apps
Es ist heutzutage „in“, üblich, chic und gehört zum „guten Ton“, miteinander in einer Gruppe zu „chatten“. Die Teilnehmer im Chat verwenden eine spezielle Ausdrucksweise, die in vielen Fällen der konzeptionellen Mündlichkeit nach dem Modell von Koch und Österreicher (1994) zuzuordnen ist. Auffällig ist dabei, dass sich die Chatteilnehmer nicht kennen und die Kommunikation öffentlich zugänglich ist. Nach Christa Dürscheid (2016) ist es gerade diese Anonymität, die dazu führt, nach dem Motto zu verfahren: „Schreib, wie du sprichst.“ Die Teilnehmer texten konzeptionell mündlich, obwohl sie sich nicht im gleichen Raum befinden. Sie beanspruchen das Dialogische, das Spontane, die freie Themenentwicklung und Textproduktion, sie werden jedoch nur mit dem Resultat konfrontiert. Der Chatteilnehmer sieht nicht, wie der Text nach und nach produziert wird. So entstehen in den neuen sozialen Medien der Trend und der soziale Druck zur Verschriftlichung des Gesprochenen. Rechtschreibung, Zeichensetzung und inhaltliche Gestaltung des Textes spielen keine Rolle. Die Sprechsprache mit lokalen Dialekteinschüben wird in die Schriftsprache mehr oder weniger eins zu eins übertragen. Die üblichen Grenzen zwischen gesprochener und geschriebener Sprache verschwimmen mehr und mehr, das handschriftliche Schreiben wird durch das Tastaturschreiben mehr und mehr ersetzt. Der Traum von der sprechenden und schreibenden Maschine ist vorherrschend und jetzt sprechen bereits Maschinen mit und für uns – den Anfang hat ALEXA mit dem Werbeslogan gemacht: „Komm, sprich mit mir!“
Anregungen für den Unterricht:
Wir müssen natürlich diese Art der Sprechgewohnheiten und Schreibweisen zulassen, doch können und sollten wir sie im Unterricht kritisch unter die Lupe nehmen. Wir müssen mehr, wie Monika Budde das einfordert, gerade in den sprachheterogenen Lerngruppen und Klassen über die gesprochene und geschriebene Sprache reflektieren. Wir müssen verstärkt ein Sprachbewusstsein aufbauen für die korrekte Gegenwartssprache und in der Diskrepanz dazu die modernen Mediensprachen betrachten und miteinander vergleichen. Dazu gehören auch die Sprachaufmerksamkeit und Sprachsensibilität, die den Prozess der Sprachreflexion in Gang setzen. So können wir Chatprodukte und Schreibungen der Schüler*innen in die geschriebene Standardsprache übertragen und umgekehrt. Mit dieser „Reflexionsstrategie“ können wir Äußerungen und Texten bewerten, „konzeptionell mündlich“ und „konzeptionell schriftlich“ sowie „medial mündlich“ und „medial schriftlich“ unterscheiden.
(5) Schüler*innen, Sprecher_innen oder
Lehrer/Lehrerinnen?
„Genderstern“ und „Binnen-I“ wie auch der Stern, der als kurze Pause gesprochen wird, sind in der Kommunikation auf dem Vormarsch, sie schaffen hitzige Debatten. Insbesondere die Medien in Rundfunk und Fernsehen und die Politik greifen diesen neuen Trend auf.
Die deutsche Sprache ist traditionell und phylogenetisch eine männlich dominierte Sprache, so wie auch unsere Gesellschaft immer noch sehr stark patriarchal orientiert ist, wie z. B. „jedermann“ u. a. Noch bis vor wenigen Jahren wurde der Gebrauch des generischen Maskulinums kritiklos hingenommen und in den Äußerungen und Verschriftungen akzeptiert. Heutzutage, und das ist der aktuelle Trend, wird die Verwendung als eine konservative Wertorientierung und frauenfeindliche Einstellung bewertet und als Gegenposition zur gendergerechten Sprache und Schrift gegenübergestellt. Wir sollten uns jedoch in der Schule und im Unterricht nicht ganz aus dem gegenwärtigen Streit heraushalten, sondern die Meinungen der Schüler*innen hören und mehrperspektivisch diskutieren. So gibt es mittlerweile Zeitschriften, wie die Zeitschrift „Sprechen“, die bereits im Editorial zum Heft 72 (2021) die Genderdebatte aufgreifen und thematisieren. So gesehen hat die Genderdebatte – und das ist jetzt gerade nicht verwunderlich – auch die Sprechwissenschaftler*innen erreicht. Das „Gendern“ wird als geschlechtergerechtes Formulieren und Texten zur sprachlichen Gleichbehandlung der Menschen definiert.
Gendern beim Sprechen
Wir wollen aufgrund der praktischen Erfahrungen der letzten Wochen und Monate sowie der Hörerlebnisse in Gesprächen, im Radio, im Fernsehen und in den sozialen Medien verschiedene Varianten vorschlagen. Dabei müssen wir zwei wichtige Faktoren bedenken: den situativen Kontext, in dem gegendert wird, und die Personengruppen, die angesprochen werden. Wir wollen lediglich eine kleine Auswahl nach Franz et al. (2021, 7 ff.) präsentieren:
(1) Doppelnennung/Beidnennung ist die gängigste und weitverbreitetste Variante:
„Die Schülerinnen und Schüler beteiligen sich im Unterricht.“
(2) Der Glottisschlag bedeutet Mut zur Lücke, d. h. kurze Pause, dann Betonung des Pluralsuffixes.
„Die Schüler*innen beteiligen sich am Unterricht.“
Der Glottisschlag ist hörbar als kurze Staupause nach „Schüler*“ und vor innen.
(3) Hier wird in einem Wort wie Schüler*in zwischen das vokalisierte r und „*in“ ein (zusätzlich eingeschobenes) konsonantisches r gesetzt. Ausgesprochen wird diese Variante so: Statt eines Glottisschlags ist nur eine winzige Sprechpause zu hören.
(4) Substantivierte Partizipien:
„Die Lehrenden, Studierenden und Teilnehmenden beteiligen sich mit klaren Worten.“
Hier steht die Tätigkeit Lehren im Vordergrund und macht Geschlechtsidentitäten unhörbar.
(5) Geschlechtsneutrale Personenbezeichnungen und Kurzformen:
„Die Bezugspersonen müssen einverstanden sein.“
Gendern beim Schreiben
Betroffen sind vor allem Personenbezeichnungen (Substantive und Pronomen) und ihre geschlechtsspezifische oder genderneutrale Verwendung. In den letzten Monaten wurden dazu verschiedene Varianten vorgeschlagen und verwendet; hier ein kleiner Auszug:
- paarweise Nennungen: Sprecherinnen und Sprecher
- Schreibungen mit Klammern: Sprecher(innen) oder Sprecher(inne)n
- Schreibungen mit Schrägstrich: Sprecher/Sprecherinnen
- Verwendung des Binnen-I: SprecherInnen
- Schreibungen mit dem Gendersternchen: Sprecher*innen
- Schreibungen mit dem Gender-Doppelpunkt: Sprecher:innen
- Schreibungen mit dem Unterstrich: Sprecher_innen
- Verwendung neutraler Begriffe: Sprecher, die sprechen
- Verwendung von Substantivierungen: Sprechende
- Verwendung von Gerund-Verb-Kombinationen: sprechend agieren
- Verwendung von Relativsätzen: jene, die sprechen
- Einsatz von Passivformen: Das Sprechen sollte verbessert werden.
- Verwendung von direkten Anredeformen: Ich möchte euch und Ihnen nicht zu nahe treten.
Anregungen für den Unterricht:
Hier sollten die Schüler und die Klassengemeinschaft diskutieren, Vergleiche anstellen, experimentieren, im Sprechen, Zuhören, Lesen und im Schreiben sich erproben und keine stilistischen Vorgaben einer bestimmten Person oder Institution übernehmen. Es ist die Frage, welche Ansprüche und Vorlieben der jeweilige Fachlehrer in den einzelnen Fächern an das Reden und Sprechen, an mündliche Vorträge und schriftliche Ausarbeitungen, wie z. B. Hausarbeiten oder Referate, stellt. Jan Georg Schneider (2020) plädiert für ein individuelles, situationsbezogenes und nicht schematisch vorgegebenes Gendern. Dadurch erfährt das Gendern Wertschätzung und spricht für ein offenes und liberales Menschenbild. Wir sind in der Schule und im Unterricht gut beraten, wenn wir allen Schüler*innen passende Gelegenheiten einräumen, die Sprache und den persönlichen Schreibgebrauch zu erproben und zu entwickeln und nicht top-down anzuordnen. Dadurch vermeiden wir Frustrationen, Wut und verhindern Aggressionen, wie wir das bereits in vielen Fachgruppierungen und Schichten unserer Gesellschaft wahrnehmen. Im konkreten Sprachgebrauch sollten wir eine „Genderstrategie“ praktizieren, die Respekt und Empathie vermittelt, d. h. in Gesprächen und Texten können wir das Gendern persönlich und individuell ausloten und selbstständig eine Entscheidung treffen. Schließlich geht es im Unterricht doch darum, gelingende Gespräche zu führen und gute Texte zu produzieren. Bereits in der Grundschule und Förderschule können die Schüler*innen darauf aufmerksam gemacht werden, dass es höflich und freundlich ist, adressatenbezogen zu schreiben. So können wir mit Einzelpersonen starten und konsequent gendern, d. h. das Geschlecht bei der Anrede oder Bezeichnung berücksichtigen. Beim Nichtgendern oder Gebrauch des generischen Maskulinums können alle gemeinsam überlegen, ob es männliche Assoziationen weckt oder nicht (vgl. Schneider 2020, 72).
(6) Beleidigen, kränken, beschimpfen und verbal verletzen
Der etwas befremdlich klingende Begriff ist als Schlagwort in Mode gekommen, taucht in allen Medien immer häufiger auf und ist zu einem neuen Sprach-Trend mutiert. Wir haben also nicht nur beim Virus Mutanten (Delta, Omikron), sondern offenbar auch bei den Sprach-Trends. „Cancel Culture“ bezeichnet den Versuch, ein vermeintliches Fehlverhalten in der gesprochenen Sprache oder Schrift, beleidigende oder diskriminierende Äußerungen und Texte öffentlich zu ächten. Es wird sogar zu einem Boykott der Personen aufgerufen. Es wird etwas „gecancelt“, das Verb kennen wir vom Reisen mit dem Flugzeug. Wie sollen wir nun aber in der Schule und im Unterricht mit diesem Phänomen umgehen? Ist es vielleicht noch zu weit von uns weg, um sich damit zu beschäftigen, oder sollten wir uns präventiv mit diesen Vorgängen auch im Unterricht aller Fächer damit beschäftigen? Aktuelle Umfragen in der Bevölkerung zeigen immer wieder, dass viele Menschen sich nicht mehr trauen, ihre Meinung zu sagen. Meinungsfreiheit ist in unserem Grundgesetz verankert und ein hohes Gut. Wir brauchen aber mutige und aufgeklärte Schüler*innen und keine „Duckmäuser*innen“ und „Weggucker*innen“. Immer wieder wird in der Schule und Klassengemeinschaft geschimpft, beleidigt und gelästert. Permanentes Lästern, zynische Bemerkungen, abwertende Äußerungen, ironische Hinweise zu Personen und ihrem Handeln und Tun sollten vermieden werden. Darüber sollten intensive und ausführliche Gespräche geführt werden, wo die Begriffe Respekt, Toleranz, Fairness, Solidarität und Gerechtigkeit behandelt und thematisiert werden. Oft sind die schwachen und ängstlichen Schüler*innen die Zielgruppe solcher Anfeindungen. Dabei sollten wir bedenken, dass die Auseinandersetzung immer erst mit aggressiven oder beleidigenden Worten beginnt und sich dann in Handgreiflichkeiten und Mobbing entladen kann (Kessler & Rathke 2021).
Anregungen im Unterricht:
Ausgangspunkt für alle Schüler*innen in allen Fächern, Klassen und Schulformen ist das Grundgesetz als die tragende Leitkultur von Unterricht, Schule und Gesellschaft. In der Verfassung sind alle wichtigen Regeln, Normen und Werte dokumentiert und definiert. Das können wir bereits in den ersten Klassen ansprechen und altersgemäß vermitteln. Wir sollten die Schüler*innen nicht unterschätzen. Wir sollten nach geeigneten Beispielen in der Klasse oder in der Schule suchen:
- Erstens geht es um die eigene Sprache, das Sprechen, Lesen und Schreiben und das Recht, seine Meinung frei zu äußern. Wir dürfen aber keine Person, Gruppe oder Minderheit beleidigen, kränken oder diskriminieren.
- Zweitens dürfen wir weder in der Schule noch außerhalb Menschen aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Hautfarbe, ihrer Religion, ihrer sexuellen Orientierung, ihrer Herkunft und ihres Alters beleidigen und diffamieren.
- Drittens gibt es ein Recht auf andere, abweichende Meinungen. Wir müssen lernen, diese Meinungen auszuhalten, auch wenn sie uns nicht passen. So ist die Meinung der Impfgegner und Querdenker geduldig zu ertragen, auch wenn sie uns nicht passt.
- Viertens gibt es in unserer demokratischen Gesellschaft keine richtigen oder falschen Meinungen. Frauen und Männer sind vor dem Gesetz gleich. Der Prozess hin zur Meinungsbildung muss offen und frei sein. Außenseiter dürfen die herrschende Meinung anzweifeln, infrage stellen, kritisieren und uns herausfordern, ohne dafür geächtet oder boykottiert zu werden.
Hilfestellung für den Unterricht:
Bei der Bearbeitung von Cancel Culture kann die Political-Correctness-Strategie helfen. Wir sollten das Gesagte und Geschriebene kritisch und reflektiert betrachten und für die politische Meinungsäußerung freigeben. Dabei sollten wir niemanden beleidigen, verletzen, ächten oder an den „Pranger stellen“. Bleiben wir stets fair und gerecht. Denken wir stets daran: Auch wir könnten ja einmal auf der anderen Seite stehen. Aktuelle Beispiele aus dem Alltag der Schule, der Klassengemeinschaft oder des Umfelds der Schüler*innen sind hier bestens geeignet, über Lästern, Drohungen, Kränkungen, Beleidigungen, Diskriminierungen von Minderheiten oder Mobbing konkret zu sprechen und entsprechende Handlungsempfehlungen abzuleiten.
Resümee
Die neuen Sprach-Trends betreffen zum einen die ganze Breite der digitalen Online-Konferenzen und Meetings, zum anderen grundlegende Tendenzen hinsichtlich des Gebrauchs von Fremdwörtern, Fachbegriffen, Metaphern und die Wertigkeit des Gesagten oder Geschriebenen. In der Schule und im Unterricht sind von diesem Thema des Sprachwandels alle Lehrkräfte in allen Fächern, in allen Klassenstufen und über alle Schulformen hinweg betroffen. Es ist nicht nur die Aufgabe der Deutsch- oder der Fremdsprachenlehrer*innen. Eine fachübergreifende Behandlung in den Unterrichtsfächern, angefangen von Sport, Musik über Deutsch, Geschichte, Religion bis hin zu Mathematik, Physik und Chemie, ist dringend geboten. Die Schüler*innen sollten sich Strategien aneignen, um in der Schule, im Unterrichtsgeschehen und im Alltag beim Umgang mit den Medien und der zu bewältigenden Informationsflut den Überblick und vor allem den Durchblick zu behalten. Der kritische reflexive Blick auf die Sprache und Schrift sollte die Aspekte Mehrsprachigkeit, Sprachenvielfalt, Sprachwandel und Mehrperspektivität berücksichtigen. Alle sprachlichen Äußerungen, schriftlichen Produktionen und verfassten Texte sollten politisch korrekt sein. Das ist der absolute Anspruch an alle!
Die übergreifende Strategie zur Bearbeitung der neuen Sprach-Trends lautet: „Beschreiben“ – „Erklären“ – „Reflektieren“ –„Strategisch handeln“ – „Wirkungen erzielen“, wobei die Operatoren „Reflektieren“ (im Sinne von Verstehen) und „Wirkung erzielen“ (wirksam sein im Sinne von Selbstwirksamkeit) künftig stärker bedacht werden müssen.
apl. Prof. Dr. phil. habil. Herbert Günther
Literaturhinweise
Berger, Peter / Luckmann, Thomas (1969): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt am Main: Fischer.
Budde, Monika (2012): Über Sprache reflektieren. Kassel: University Press.
Dürscheid, Christa (2016): Einführung in die Schriftlinguistik. 5. Auflage. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Eisenberg, Peter (2013): „Sprachkonservierung ist ein hoffnungsloses Unterfangen“. In: B & E. Ausgabe Herbst/Winter, S. 12–13.
Franz, Katja / Jöster, Anna / Kuhlmann, Martin / Mendez, Josefine / Schwarzbach, Beatrix / Schulte, Iris / Trischler, Franziska (2021): „Wie wir gendern könnten, wenn wir wöllten“. In: sprechen, Heft 72, S.7–16.
Kessler, Martin & Rathcke, Julia (2021): 12 Thesen zu Cancel Culture. In Saarbrücker Zeitung. SZ EXTRA D5.
Schneider, Jan Georg (2020): Geschlechtergerechter Sprachgebrauch im Deutschen: grammatische, pragmalinguistische und gesellschaftliche Aspekte. In: Albert, Georg / Bluhm, Lothar / Schiefer, Markus: Political Correctness. Baden-Baden: Textum Verlag, S. 45–72.
Sen, Amartya (2010): Die Idee der Gerechtigkeit. München: Beck.
Voigt, Steffen / Wichtmann, Anna (2021): Erfolgreich kommunizieren in Videokonferenzen. In: sprechen, Heft 72, S. 69–77.
Wittgenstein, Ludwig (1984): Philosophische Untersuchungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 424–429.