LuSh – Ausgabe 09-10/2024 – Am Anfang war das Lesen
Am Anfang war das Lesen
Lesen ist für viele Erwachsene fast so selbstverständlich wie das Atmen. Diese Basiskompetenz zu lernen fällt vielen Kindern aber immer schwerer. Damit es besser gelingt, muss Lesen Teil der Schulkultur sein und darf nicht nur im Deutschunterricht eingeübt werden, sagen Experten.
Seit mehr als zwanzig Jahren werden die Fähigkeiten beim Lesen bei deutschen Schülerinnen und Schüler immer schlechter. Die letzte IGLU-Studie (2023) hat dies zuletzt bestätigt. Die durchschnittliche Lesekompetenz aller, sowie die der schwächsten Schüler*innen hat gegenüber den Studien von 2001 und 2017 noch einmal signifikant abgenommen, wohingegen der Abstand zwischen den am schwächsten und stärksten lesenden Kindern erneut zugenommen hat. 25 Prozent der deutschen Viertklässler*innen können geschriebene narrative Texte im Grunde nicht verstehend lesen, wobei ein weiterer Anteil von 35 Prozent nur unterdurchschnittliche bis durchschnittliche Leseleistungen zeigt. Mehr als die Hälfte der deutschen Viertklässler*innen benötigt also dringender denn je eine kohärente und kontinuierliche systematische Leseförderung, da viele von ihnen sonst im Übergang zur weiterführenden Schule oder in deren weiteren Verlauf auch in den Sachfächern zu scheitern drohen, in denen Lernen durch und mit Schriftlichkeit eine zentrale Rolle spielen.
Experten vermuten, dass diese negative Entwicklung in den Lesefähigkeiten daher rührt, dass in den deutschen Grundschulen die Kinder eine geringe Netto-Lesezeit im Vergleich mit anderen Ländern haben. Nur rund 28 Minuten pro Schultag werden dem Lesen gewidmet, was im internationalen Vergleich sehr wenig ist, während das bei einigen Kinder mit privilegierten Hintergründen nicht weiter ins Gewicht fällt, weil sie zuhause ausreichend Anreize und Förderung erhalten. Für Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern reicht das aber nicht aus, um Lesegewohnheiten zu etablieren.
Das ist besonders katastrophal, denn in der Welt des Lesens geht es um mehr als nur das Aneinanderreihen von Buchstaben. Es geht darum, Welten zu erkunden, Ideen zu entdecken und die eigene Vorstellungskraft zu beflügeln. Lesen ist daher etwas, was dazu beiträgt, an Bildung und Gesellschaft teilzuhaben.
Das Bundesland Hamburg hat daher schon 2014 das sogenannte Leseband eingeführt, dass diagnosebasiert und barrierearm im Schulalltag umgesetzt werden kann. Die Ergebnisse sind so erfreulich, dass es mittlerweile von vielen Bundesländern nachgeahmt wird. Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz sowie in Teilen Nordrhein-Westfalens und Brandenburg steht mittlerweile ein Leseband auf dem Stundenplan.
Gelingensbedingungen zur Einführung eines Lesebandes Erfinder des Konzepts ist der Hamburger Professor Steffen Gailberger. In der Zeitschrift Grundschule 4/2024 beschreibt er, welche Gelingensbedingungen beachtet werden sollten, damit das Leseband funktioniert (Das Leseband und was es bewirkt, Grundschule 4/24, S.7ff, Westermann).
- Erstens ist es wichtig, dass es sich um eine verbindliche tägliche Lesezeit von zwanzig Minuten handelt. Diese Zeit sollte unabhängig vom regulären Deutschunterricht sein und sich durch den Schultag „ziehen“, um die Nettolesezeit signifikant zu erhöhen.
- Zweitens sollte das Leseband bewusst vom Deutschunterricht abgegrenzt werden, um Lesemotivation und -freude zu fördern, wo der reguläre Unterricht möglicherweise Schwierigkeiten hat. Es ist auch entscheidend, dass die gesamte Schulgemeinschaft hinter der Idee steht und alle Mitarbeiter*innen in die Leseförderung eingebunden sind. So kann eine wertschätzende Atmosphäre entstehen, in der Lesen als gemeinsame Aufgabe gefördert wird. Mit diesen Rahmenbedingungen kann das Leseband zu einer Quelle der Inspiration und Freude für alle Schüler*innen werden.
- Drittens richtet sich das Leseband hauptsächlich an Schüler*innen der Jahrgangsstufe 2 oder älter, da in Jahrgang 1 noch grundlegende Fertigkeiten für das Lesen vermittelt werden sollten. Dennoch können auch Kinder aus Jahrgang 1 in ritualisierte Vorlesesituationen integriert werden.
- Viertens steht bei den zwanzig Minuten des Lesebandes das Lesen selbst im Vordergrund; dennoch kann es notwendig sein, den Wortschatz zu üben und textliches Vorverständnis zu fördern, wobei der Fokus auf der Freude am Lesen und der Lesemotivation bleibt.
- Fünftens empfiehlt sich für schwach lesende Schüler*innen der Einsatz verschiedener Lautleseverfahren, deren Effektivität nachgewiesen wurde. Dabei ist es wichtig, geeignete Methoden auszuwählen, um Über- oder Unterforderung zu vermeiden. Eine vorgelagerte Lesediagnose, etwa durch Lautleseprotokolle, hilft dabei, die passende Methode entsprechend dem Lesestand der Schüler*innen zu identifizieren.
Einige bewährte Techniken zur Leseförderung im Leseband sind die folgenden:
1. Chorisches Lesen
Beschreibung: Beim chorischen Lesen lesen mehrere Personen (meist eine Gruppe von Schülern) denselben Text laut vor. Alle Leser orientieren sich an der gleichen Lesegeschwindigkeit und Intonation.
Erklärung: Diese Technik fördert nicht nur die Lesefähigkeit, sondern auch das Gemeinschaftsgefühl und die Teamarbeit. Durch das gemeinschaftliche Lesen werden Unsicherheiten abgebaut.
Eignung: Chorisches Lesen eignet sich besonders für jüngere Schüler oder Lernende mit Schwierigkeiten im Leseverständnis. Durch die Unterstützung der Gruppe wird das Selbstbewusstsein gefördert, und die Lernenden können sich besser auf die Inhalte konzentrieren.
2. Lautlesetandem
Beschreibung: Bei dieser Methode arbeiten zwei Lernende in einem Tandem. Ein Schüler liest laut, während der andere zuhört. Sie können sich abwechseln und erhalten so die Möglichkeit, sowohl die Lesefähigkeiten zu stärken als auch einander Feedback zu geben.
Erklärung: Lautlesetandems bieten eine individuelle Förderung, da die Zusammenarbeit zwischen den Partnern zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Text führt. Durch das Zuhören und das Geben von konstruktivem Feedback wird das Textverständnis vertieft.
Eignung: Diese Technik ist ideal für Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher Niveaus. Jüngere Leser können von einem erfahrenen Partner lernen, während fortgeschrittene Leser ihre eigenen Fähigkeiten durch das Lehren und Erklären festigen können.
3. Vorlesetheater
Beschreibung: Beim Vorlesetheater wird ein Text (z. B. ein Märchen oder eine Geschichte) szenisch umgesetzt. Die Teilnehmer übernehmen Rollen und lesen die Dialoge laut vor, oft ergänzt durch schauspielerische Elemente.
Erklärung: Diese Methode verbindet Leseförderung mit Theater- und Rollenspielelementen. Sie fördert die Ausdruckskraft und das Textverständnis, da die Leser durch die schauspielerische Darstellung emotional in die Geschichte eintauchen können.
Eignung: Vorlesetheater eignen sich für alle Altersgruppen und können in Klassen eingesetzt werden, um die Lesefertigkeiten spielerisch zu fördern.
4. Hörbuchlesen
Beschreibung: Bei dieser Technik hören die Lernenden ein Hörbuch und folgen parallel dazu dem schriftlichen Text.
Erklärung: Hörbuchlesen kombiniert visuelles und audibles Lernen, was das Leseverständnis und die sprachliche Förderung unterstützt. Die Zuhörer können den Rhythmus und die Intonation eines natürlichen Vorlesens wahrnehmen, was besonders wichtig für die Entwicklung der eigenen Lesefähigkeit ist.
Eignung: Diese Technik ist besonders für Schüler geeignet, die Schwierigkeiten beim flüssigen Lesen haben, sowie für Hörgeschädigte oder Lernende mit Legasthenie. Das gleichzeitige Lesen und Hören kann das Textverständnis erheblich verbessern.
Alle genannten Techniken zur Leseförderung bieten unterschiedliche Ansätze, um die Lesekompetenz in Schulen zu stärken. Sie können flexibel an die Bedürfnisse und Fähigkeiten der Lernenden angepasst werden, sodass ein individuelles und gemeinschaftliches Lernen gefördert wird. Hier finden sich weitere Informationen, Videos und Materialien zur Einführung von Lesebändern:
https://www.alf-hannover.de/materialien/lesebaender
Bildquelle: © Ashok Sinha / adobestock.com