LuSh – Ausgabe 05/2022 – Dies und Das – Sprachförderung der Zukunft
Sprachförderung der Zukunft:
Unterrichtsintegriert, integrativ und wirksam
1. Einstieg
Die Diskussion um die Neugestaltung der Sprachförderung in der Kita und in der Schuleingangsphase hat gerade in den letzten Wochen und Monaten Fahrt aufgenommen und wird kontrovers zwischen den Parteien, Gewerkschaften, dem externen Träger und zuständigen Bildungsministerium diskutiert. Das Sprachprogramm „Früh Deutsch lernen“ existiert seit 2003 und hat die Sprachförderung in der Schuleingangsphase seit zwei Dekaden geprägt. Das zuständige Bildungsministerium will den additiven Förderansatz im vorschulischen Bereich konzeptionell durch eine in der Planung befindliche „alltagsintegrierte Sprachbildung“ ersetzen. Darüber hinaus sollen künftig alle Sprachförderlehrer*innen vom Bildungsministerium eingestellt und als Landesbedienstete mit unbefristeten Verträgen bezahlt werden. Der geplante Wechsel weg vom Outsourcing-Modell eines externen Trägers hin zu einer integrierten Sprachförderung unter staatlicher Verantwortung ist richtig, wichtig und längst überfällig. Die vorliegenden Erkenntnisse der Forschung und die raschen Veränderungen in der Gesellschaft erfordern auch eine Neuausrichtung der Sprachförderung in den Klassen 1–4 der Grundschule. Der folgende Beitrag möchte mit dem Konzept der „unterrichtsintegrierten Sprachförderung“ zu einer bescheidenen Kurskorrektur der bisherigen Sprachförderung beitragen. Die zentrale These lautet: Jeder Unterricht ist gleichzeitig auch immer Sprachunterricht! Die Förderung der Sprache und des Sprechens wird damit zu einem unterrichtsimmanenten Bestandteil jeglichen Unterrichts!
2.Starke werden stärker – Schwache werden schwächer: Erkenntnisse und empirische Befunde
Die empirischen Befunde und täglichen Erfahrungen in den Schulen sprechen eine klare und eindeutige Sprache: Die zugespitzte Zusammenfassung der IGLU-Studie 2016 lautet: Die Starken sind stärker und die Schwachen sind schwächer geworden. Drei Befunde erschweren den Unterricht in der Grundschule und die Sprachförderung erheblich:
- Gesundheitliche Probleme: Entwicklungsstörungen
Der Begriff der „neuen Morbidität“ ist sprachlich und inhaltlich zu einer Sammelbezeichnung von großer Bedeutsamkeit emporgestiegen. Der Kinder- und Jugendpsychiater Hans Schlack versteht darunter komplexe chronische Störungen, die Symptome in mehreren Funktionsbereichen nach sich ziehen. Dazu gehören Entwicklungsstörungen der Sprache, Motorik, Wahrnehmung und des kognitiven Leistungsvermögens. Die Anzahl der Schüler*innen mit Sprachentwicklungsstörungen steigt und viele bleiben in der Schule unentdeckt. Wichtig ist der Hinweis, dass der sozioökonomische Status die Entwicklung von Schülern weit mehr als biologische Faktoren bestimmt; er ist nach Günter Esser und Remo H. Largo in allen Entwicklungsstudien die wichtigste Variable. - Emotional-soziale Probleme: Reduzierte Kommunikation
Die Corona-Pandemie mit den Langzeitfolgen u. a. der sozialen Phobie und dem „Höhlen-Syndrom“ sowie der belastenden „Spiegelangst“, sich immer wieder in Videokonferenzen selbst zu sehen, hat die Sprachentwicklung und das Erlernen von Sprachen gerade in den ersten zehn Lebensjahren erheblich erschwert oder gar verhindert. Das Tragen von Masken wurde von Psychologen in der aktuellen Bamberg-Studie untersucht. Der Sprachunterricht leidet unter den maskierten Gesichtern, weil es mit Maske fast unmöglich ist, den Unterschied zwischen „mmm“ und „nnn“ mithilfe von Mundbewegungen zu zeigen. Schüler*innen mit nicht deutscher Erstsprache und mangelhaften Deutschkenntnissen sind davon noch mehr betroffen. Wenn die Lehrer*innen Masken tragen, dann können die Schüler*innen kaum ein „O“ von einem „U“ unterscheiden. Um eine Sprache zu erlernen, müssen die Schüler*innen auch vom Gesicht ablesen können. Dies betrifft auch den Fremdsprachenunterricht (z. B. den „th-Laut“ im Englischen). Diese Lautbildung gelingt immer dann gut, wenn der Lehrer mit dem Finger am Mund demonstriert, wie dieser Reibelaut mit der Zunge an den Zähnen gebildet wird. Daher ist auch der Präsenzunterricht so wichtig. Das ist aber ganz besonders wichtig für die Schulanfänger und Schüler*innen mit persönlicher Zuwanderungsgeschichte. - Sprachlich-kognitive Probleme: Leseversagen
Nach der Studie des Instituts für Schulentwicklungsforschung (IFS) der Universität Dortmund hat die Lesefähigkeit bei 25 % der Viertklässler*innen substanziell so stark gelitten, dass ihnen ein halbes Schuljahr fehlt! Die Lernrückstände sind so massiv, dass umgehende Maßnahmen erforderlich sind. Wie soll die Digitalisierung in den Familien und Schulen vorangebracht werden, wenn das flüssige und sinnerfassende Lesen bei vielen Schüler*innen fehlt? Der Laptop allein reicht nicht!Die gute Nachricht: Schulen können diese Schüler*innen in der „unterrichtsintegrierten Sprachförderung“ unterstützen und fördern. Es gibt geeignete Methoden und bewährte Strategien. Stimme, Gesicht, Sprechen, Sprache, Schrift und Literatur gehören zusammen. Die ersten zwei Schuljahre sind entscheidend. Wird hier nicht der Grundstein gelegt, dann ist das Risiko groß, ein Leben lang Probleme mit dem Sprechen, Lesen und Rechtschreiben zu haben.
3.Sprache und Sprechen sind komplexer, als wir annehmen
40 Laute, 5.000 Grundwörter, 500.000 Wörter und unendlich viele Sätze sind möglich. Es geht um drei große Bereiche: Aussprache, Wortschatz und Grammatik. Die Artikel „der, die, das“ den Nomen und das Verb „lesen“ dem Nomen „Schülerin“ zuzuordnen ist keine Sprachförderung. Sprache ist weit mehr als eine Oberfläche des Sprechens und als die Klanghülle der Wörter. Jedes gesprochene Wort trägt ein ganzes Paket an Informationen. Wer solch ein Wort erwirbt, muss fast gleichzeitig phonetische, phonologische, morphologische, semantische, syntaktische, prosodische und pragmatische Informationen aufnehmen.
Monika Rothweiler und Tobias Ruberg1 weisen darauf hin, dass das Bedeutung-Konzept-Wissen und das Anwendungswissen (das pragmatische Wissen) von den Erfahrungen, dem sozialen Hintergrund und der jeweiligen Kultur abhängig sind. Mehrsprachig aufwachsende Kinder verwenden die verschiedenen Sprachen (Erst- bzw. Herkunftssprache, Deutsch als Zweitsprache, Dialekte) in unterschiedlichen sozialen Kontexten und Situationen. Von daher sind ihre Begriffe, ihre Konzepte und ihr Handlungswissen von diesen Kontexten geprägt. Mehrsprachig aufwachsende Kinder haben daher einen geringeren sozialen Erfahrungshintergrund und Wortschatz. Die in der Sprachförderung so beliebten und auch leicht umzusetzenden Wortschatzübungen sollten daher nicht weiter isoliert durchgeführt werden. Zum einen sollten neue Wörter stets in einem Satzkontext erlernt werden, weil dadurch das Verstehen und Behalten besser gelingt, und zum anderen, weil das reine Wortschatztraining ohne Anbindung z. B. an das Lesen wenig effizient ist. Nur wer einen großen Wortschatz hat, kann auch gut lesen und das Gelesene verstehen. Es geht ja um das flüssige und sinnerfassende Lesen. Wenn wir dem in der Klasse vorlesenden Schüler zuhören, erkennen wir, dass der Schüler immer dann gut liest, wenn er selbst den Text auch verstanden hat. Denken wir doch nur an den Erstklässler, der beim Lesenlernen in den ersten Tagen und Wochen das Wort „E—s—e—l“ langsam, Buchstabe für Buchstabe mühsam und anstrengend erliest und den Inhalt nicht versteht – eine typische künstliche Worthülse. Die integrative Einheit der Sprachhandlungen Sprechen, Hören, Lesen und Verstehen wird deutlich.
4.Der Mensch ist ein soziales Wesen – ein handlungsorientierter Ansatz
Verschiedene Zugänge können zum Verständnis von Sprache führen: ein philosophisch-anthropologischer Zugang, der die Sprache als das spezifisch und typisch Menschliche ausweist und den Eigenwert der Sprache hervorhebt (pädagogischer Gedanke), ein funktionsorientierter Zugang, der eher das Heilpädagogisch-Therapeutische in den Mittelpunkt rückt (heilender Gedanke), und der handlungstheoretische Ansatz, der das menschliche Handeln und damit auch die Sprache und das Sprechen als Werkzeuge innerhalb einer bestimmten Situation betrachtet (handelnder Gedanke). Wir haben uns für den handlungsorientierten Ansatz entschieden, weil er die Schüler*innen und Sprachenlernenden vor allem als sozial Handelnde betrachtet. Die Schüler müssen als mündige und selbstständige Mitglieder der Gesellschaft in bestimmten Situationen und unter bestimmten Umständen kommunikative und sprachliche Aufgaben erledigen. Die OECD2 hat in ihrem Lernkompass eine neue Schülerrolle definiert: Die Schüler*innen waren bisher gewohnt, nach festen Ritualen, pädagogischen Drehbüchern, vorgefertigten Skripten und Standards outcomeorientiert zu pauken und nach Punkten zu lernen. Sie werden jetzt mehr und mehr zu aktiven Teilnehmer*innen, die zwar weiter nach Vorgaben der Lehrkräfte, jedoch mithilfe ihrer Gestaltungskompetenz und Handlungsfähigkeit, mit Sprache und Sprechen selbstständig umgehen zu können, selbstständiger arbeiten: Student Agency (eigenständige Gestaltungs- und Handlungskompetenz = Sprachhandeln).
Abb. 2: Lernkompass 2030
In den kognitiven Lerngrundlagen dieses neuen Rahmenkonzepts stecken die Sprech-, Lese- und Schreibfähigkeiten und damit das Thema unseres Beitrags. Durch gezielte und kompetente Unterstützung in den Lerndimensionen Wissen, Skills, Haltungen und Werte durch die Umgebung (Familie, Eltern) und insbesondere durch die Lehrkräfte übernehmen die Schüler*innen Verantwortung für das eigene Sprachenlernen. Im Mittelpunkt steht der Gedanke, dass Schüler*innen immer mehr Verantwortung für ihre Sprache und ihr Sprechen übernehmen. Der Aufbau von Lerngerüsten durch Fachkräfte und Familienmitglieder ist entscheidend.
5. Zum Handlungsplan der Sprachförderung
Soll der Erfolg einer sprachlichen Aussage bewertet werden, kann das nicht allein aus der getätigten verbalen Äußerung heraus erfolgen. Der Erfolg einer Handlung bestimmt sich doch dadurch, dass das handlungseröffnende Bedürfnis, etwas zu fragen, zu sagen oder zu erzählen, erfüllt und damit auch das angestrebte Ziel erreicht ist. Hier sollten wir ein erstes Problem der Sprachförderung sehen: Obwohl eine Aussage sprachlich nicht korrekt ist, kann sie dennoch zum Erfolg einer Handlung beitragen. Umgekehrt ist jedoch nicht sicher, ob jede korrekte sprachliche Äußerung zum erwünschten Erfolg führt.
Der handlungsorientierte Ansatz wird durch das Lernverständnis von Galperin weitergeführt, der den Lernprozess in die drei Einheiten Orientierung, Ausführung und Kontrolle untergliedert. Damit haben wir eine systematische Grundlage für die konkret umzusetzende Sprachförderung gefunden und können drei eng miteinander verzahnte Phasen nennen: Analyse, Ausführung und Kontrolle.
Abb. 3: Drei-Phasen-Konzept
(1) Die Phase der Analyse
In der Bedarfsanalyse geht es um die fachlichen und sprachlichen Anforderungen des Unterrichts bzw. der Sprachförderung. In der Sprachstandsanalyse werden die fachlichen und sprachlichen Vorkenntnisse der Schüler*innen erfasst. Grundsätzlich sind drei Gruppen von Einflussfaktoren in der Sprachentwicklung der ersten zehn Lebensjahre bedeutsam:
Individuelle |
Sprachspezifische |
Umwelt- |
Weltwissen |
Sprachlicher Transfer |
Qualität des Angebots |
Alter bei Erwerbsbeginn |
Sprachwechsel |
Familiärer Sprachgebrauch |
Sprachkontakte |
Sprach- |
Bildungs- |
Tab. 1: Einflussfaktoren der Sprachentwicklung
Dabei werden als Methoden eingesetzt: die subjektive Beobachtung (Eltern, Lehrer*innen), die Biografie als Erfassung wichtiger vorliegender Lebensdaten sowie das Erzählen der eigenen Lebensgeschichte (Schüler und Eltern kommen zu Wort) und die Messung sprachlich zugänglicher Informationen über geeignete Testverfahren. Schulz und Tracy haben die „Linguistische Sprachstandserhebung – Deutsch als Zweitsprache“ entwickelt (LiSe-DaZ). Der Test überprüft das sprachliche Wissen der Schüler*innen in zentralen Bereichen der deutschen Sprache. LiSe-DaZ erfasst die Produktion und das Verstehen der Sprache drei- und achtjähriger Kinder mit Deutsch als Zweitsprache. Die Durchführung des Tests dauert ca. eine halbe Stunde. Es geht um die Ermittlung des Sprachentwicklungsniveaus, damit wir wissen, wo wir in der Förderung organisatorisch und didaktisch-methodisch konkret ansetzen können. Somit haben wir in der Analyse ein ausgewogenes Instrumentarium: Beobachtung, Biografie und einen praktikablen und erprobten Test.
(2) Die Phase der Ausführung
Die Formulierung des Erwartungshorizonts (= Abgleich der fachlichen und sprachliche Bedarfe mit dem Vorwissen der Schüler*innen) führt dann zu der didaktischen und organisatorischen Umsetzung der Sprachförderung mit geeigneten Lerngelegenheiten und Sprachsituationen: das unterrichtsintegrierte Konzept. Was erwarte ich von dem Schüler bzw. der Schülerin? Die sprachlichen und fachlichen Erwartungen sollten formuliert werden, damit nach der Sprachförderung erkannt werden kann, was erreicht worden ist und was nicht. Sprachförderung ist nicht als ein Unterrichtsfach wie Mathematik, Deutsch, Sachunterricht oder Musik zu betrachten. Sprache ist das basale Handwerkszeug der Schüler*innen zum Denken, Fühlen, Erleben, Handeln und Verhalten; das ist ein großer Unterschied, den wir berücksichtigen müssen. Sprache kann und darf nicht in eine „didaktische Schablone“ gepresst werden; Sprache ist nach allen Seiten hin offen. Sie ist kreativ, omnipräsent und omnipotent. Wörter, Sätze, Sprüche, Reden, Texte sind nicht endlich, sondern für alle Menschen unendlich. Damit wir eine grobe Vorstellung darüber haben, wie das komplexe System Sprache aussehen könnte, haben wir folgende theoretische Skizze als Modell der Sprachganzheit erarbeitet.
Abb. 4: Modell der Sprachganzheit
Die dargestellte Komplexität des Systems Sprache wird in der Regel in dem Umfang nicht erwartet, ist aber gegeben. Hier wird das Vereinen und Zusammenführen als „integrative Methode“ bezeichnet. Der entscheidende Schritt in dieser Phase besteht doch darin, wie wir aus den alltagssprachlichen Erklärungen und dem Sprechen mit „Händen und Füßen“, d. h. mit vielen Zeigegesten, zur Unterrichtssprache des jeweiligen Fachs gelangen. Es geht z. B. um das Fach Mathematik. Die „Welt der Zahlen, Ziffern und Formeln“ braucht die Sprache, damit wir z. B. eine Textaufgabe lösen können. Wie gut Schüler*innen in Mathe sind, hängt auch von der Sprachkompetenz ab. Nach dem bereits erwähnten wichtigen Erwartungshorizont und der organisatorischen Planung (innere oder äußere Differenzierung) geht es jetzt um die ablaufenden Prozesse und vielfältigen Interaktionen in der Klassengemeinschaft. Sind die Sprechanlässe in Mathematik authentisch oder künstlich („an den Haaren herbeigezogen“)?
Es ist doch sehr naiv, anzunehmen, wir könnten in der Sprachförderung ein isoliertes Vokabeltraining wie im Fremdsprachenunterricht durchführen. Wortschatzübungen sind beliebt, weil sie einfach zu realisieren sind. Sie zeigen aber meist keine nachhaltigen Effekte, d. h. alles wird wieder schnell vergessen. Die „integrative Methode“ der Sprachförderung sollte nahtlos übergehen in das „reziproke Lesen“ und in den reziproken Rechtschreibunterricht. Renate und Michael Andreas3 fordern im Zuge der systematischen Vermittlung der Rechtschreibung die Fokussierung auf die Prosodie. Damit sind die Betonung, die Intonation und die Rhythmik des Gesprochenen oder Gelesenen gemeint, denn Sprache hat sehr viel mit Wahrnehmung zu tun. Drillmethoden und intensive Sprachkurse von kurzer zeitlicher Dauer sind nicht gewinnbringend. Das Spielerische wie auch das immer wieder zitierte Sprachbad (aus dem Fremdsprachenunterricht) haben in der Sprachförderung durchaus ihre Berechtigung, sollten aber nicht überstrapaziert und überschätzt werden. Die Schulpraktikerin Ingrid Weis4 nennt folgende hilfreiche Methoden, die gerade auch im Fach Mathematik eine gute Hilfe sein können:
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Textaufgabe
Helena hat drei Freundinnen und Tina hat zwei. Wie viele Freundinnen haben sie zusammen?
Wer nicht richtig lesen kann, trifft permanent auf unüberwindbare Stolpersteine – so auch beim Rechnen. Textaufgaben müssen die Schülerin und der Schüler lesen und verstehen können.
(3) Die Phase der Kontrolle
Diese Phase wird in der Sprachförderung selten bzw. über-haupt nicht beachtet. Wer fragt denn danach, was die Sprachförderung gebracht hat? Doch gerade darin sollte die Stärke der Sprachförderung liegen. Das ist die große Schwäche in der Sprachförderung. Hinzu kommt, dass Sprachförderung dann erfolgreich ist, wenn die Familie insgesamt eingebunden ist und die Eltern mitmachen. Doch die Eltern sind zu weit weg, meistens weder informiert noch interessiert und sie finden trotz der heutigen technischen Möglichkeiten kaum Gelegenheit, mit dem zuständigen Sprachförderlehrer zu sprechen. Folgende Fragen sind legitim: Gelingt der sprachliche Transfer von der Übungssprache der Sprachförderung in die Spontansprache des Alltags? Gibt es über die Zeit eines Schuljahres hinweg Veränderungen in der Sprache und beim Sprechen bei den geförderten Schülern?
Hinweis: Wenn die Sprachförderung in der Grundschule auch wirklich funktionieren soll, müssen alle drei Phasen als integrative Einheit wie aus einem Guss und als funktionierendes System agieren. Doch Evaluation und Ergebnissicherung werden oft vernachlässigt. Sie kosten Zeit, machen viel Arbeit und können das Scheitern dokumentieren – sind aber eminent wichtig für das weitere Vorgehen im Unterricht.
6. Exponierte Spezialaspekte
Bei der geplanten Neuausrichtung der Sprachförderung ist es wichtig, einige grundlegende Aspekte herauszugreifen, kritisch zu reflektieren und in der Sprachförderung zu berücksichtigen.
- Heterogenität der Schülerschaft
Folgende Schülergruppen brauchen Sprachförderung:
Gruppe 1: Kinder und Schüler*innen mit Deutsch als Erstsprache (Muttersprache), die nicht altersgemäß entwickelte Fähigkeiten in der deutschen Sprache und beim Sprechen aufweisen. Sie haben einen spezifischen Sprachförderbedarf. Eine Erweiterung des Blickfeldes ist notwendig: Wir müssen auch an die Gruppe der Schüler*innen mit Sprachentwicklungsstörungen denken, die immerhin 10–15 % eines Jahrgangs ausmachen und entweder eine logopädische Therapie besuchen oder aber bisher unentdeckt geblieben sind.
Gruppe 2: Kinder und Schüler*innen mit nicht deutscher Erstsprache, die über keine oder nur unzureichende Deutschkenntnisse verfügen, wie aktuell die geflüchteten Kinder und Jugendlichen aus der Ukraine. Hier dominieren die persönlichen Zuwanderungsgeschichten der Flucht und Migration. Hier brauchen wir eine Ausweitung: Nicht wenige der zugewanderten oder geflüchteten Kinder leiden unter solchen psychischen Störungen wie Ängsten, Depressionen, Traumata und neigen zu autistischen Verhaltensweisen und autistischen Zügen mit dem Endzustand des völligen Schweigens.
- Strukturen der Sprachförderung
Favorisiert wird das schuleigene Konzept und schulinterne Modell der unterrichtsintegrierten Sprachförderung5. Alle Schüler*innen werden in einer Klasse mit innerer Differenzierung und Hinzuziehung einer Grundschullehrerin mit Zusatzausbildung in DaZ unterrichtet. Äußere Differenzierung durch zusätzliche Förderstunden (max. zehn pro Woche) sollten bei mehr als vier Schülern organisiert werden, wenn erhebliche sprachliche Schwierigkeiten vorliegen. Schulinterne Vorbereitungsklassen sowie zeitlich begrenzte Intensivkurse bilden die Ausnahme. Outsourcing-Modellen ist eine klare Absage zu erteilen!
Abb. 5: Entwicklungsverlauf Sprache & Schrift
- Entwicklungsverlauf des Sprach- und Schrifterwerbs:
Das Wissen über die Sprachentwicklung und die Schriftaneignung spielt für die Sprachförderung eine große Rolle. Gerade bei Kindern mit Problemen in der deutschen Sprache und beim Erwerb von Deutsch als Zweitsprache sind die Wechselwirkungen zwischen der Sprache und der Schrift fundamental, da die Schrift auf der Sprache aufbaut. Grundprinzipien der Sprachentwicklung sind: gesetzmäßige Reihenfolge der einzelnen Schritte, hohe Variabilität hinsichtlich des Erreichens einzelner Meilensteine und große interindividuelle Unterschiede in den ersten zehn Lebensjahren6.
- Zeitachse
Nicht wenige der betreuten und geförderten Schüler befinden sich sowohl in der Erst- und Muttersprache Deutsch als auch im Erwerb der Zweitsprache Deutsch inmitten der Spracherwerbsphase und der laufenden Sprachentwicklung, die sich meist über die ersten zehn Lebensjahre erstreckt. Was die Sprachförderung von zugewanderten Kindern und Jugendlichen mit Deutsch als Zweitsprache angeht, so müssen wir einen Förderzeitraum von drei bis sieben Jahren ansetzen, um wirkliche Erfolge sehen zu können. Wir müssen den Kindern mehr Zeit geben, unterschiedliche Erfahrungen in unterschiedlichen Situationen und Sprachlerngelegenheiten zu sammeln.
- Sprachentwicklungsniveaustufen
Die Schüler*innen durchlaufen verschiedene, aufgrund ihres individuellen Entwicklungstempos sich erheblich voneinander unterscheidende Sprachentwicklungsniveaus. Dieses Tempo ist abhängig von der sprachlichen Anregung und den Sprachkontakten des Schülers. Monolingual deutschsprachig aufwachsende Schüler benötigen ungefähr 4 bis 6 Monate, um von einem Niveau ins nächsthöhere Sprachniveau zu gelangen. Bei Kindern mit nicht deutscher Erstsprache ist je nach Sprachanregung und Sprachkontaktsituation von einer deutlich längeren Zeitspanne auszugehen. Die Schweizer Forschergruppe um Alexander Grob7 hat acht Sprachentwicklungsniveaus vorgeschlagen, die in vereinfachter Version auch für die Sprachförderung von Schüler*innen in der Schuleingangsphase genutzt werden könnten.
Niveau 1: kein Kontakt, keine Deutschkenntnisse Niveau 2: erster Kontakt, keine Deutschkenntnisse Niveau 3: Verstehen isolierter Wörter, jedoch keine Wortproduktion Niveau 4: Verstehen häufig verwendeter Wörter, erste Wortproduktion setzt ein Niveau 5: Verstehen einfacher Äußerungen, erste Wortverbindungen |
Niveau 6: Verstehen einfacher Anweisungen, Schüler*in kann sich in wiederkehrenden Alltagssituationen verständigen Niveau 7: Verstehen einer Vielzahl von sprachlichen Äußerungen, Schüler kann sich verständigen Niveau 8: gute Deutschkenntnisse, Schüler kann sich situationsspezifisch ausdrücken |
- Spracherwerbstyp
Wir können drei verschiedene Spracherwerbsformen und damit auch Typen unterscheiden: Kinder und Schüler*innen mit Deutsch als monolingualer Erstsprache, Schüler*innen mit Deutsch als bilingualer Erstsprache und Kinder mit Deutsch als Zweitsprache. Beim Spracherwerbsverlauf können Hindernisse auftreten, wie z. B. fehlende psycho-physische Voraussetzungen, Überforderungssymptome, fehlende Motivation, sachfremde Einflüsse, Kulturunterschiede, Disziplinkonflikte, regressives Verhalten (Nichtbeachtung oder Weglaufen), fehlende Empathie und fehlendes Vertrauen.
Alter bei Erwerbsbeginn
Ein ganz wichtiger Faktor für den Erfolg des Erwerbs der Sprachförderung ist das Alter, in dem der Erwerb beginnt. In der Literatur spricht man vom „age of onset“ (AO). So wissen wir, dass sich der Erwerb von zwei und mehr Sprachen von Geburt an kaum vom Erwerb der Muttersprache unterscheidet. Die Erwerbsschritte ähneln sich und auch die erreichbaren Fähigkeiten gleichen denen einsprachiger Kinder. Bei Kindern, die mit dem Erwerb einer zweiten Sprache später beginnen, etwa im vierten oder siebten bzw. achten Lebensjahr, gibt es einige Unterschiede in der Grammatik und im Wortschatz.
- Quantität und Qualität der Sprachkontakte
Gerade bei Kindern mit nicht deutscher Erstsprache sind die Quantität und Qualität der Sprachkontakte wichtig. Wir kommen zu der Annahme, dass die Kontexte, in denen Sprachkontakte beim Zweitspracherwerb stattfinden, heutzutage vielfältiger geworden sind als bei der Erstsprache. Während der Erstspracherwerb vorwiegend in den Familien, Kitas und begrenzten Freizeitbereichen stattfindet, erstrecken sich die Sprachkontakte auf ein breites Spektrum an Entwicklungs- und Lernkontexten, die den familialen, aber auch den außerfamilialen Kontext mit einschließen. Dabei gibt es eine Reihe von authentischen Sprachkontaktmöglichkeiten: Eltern, ältere Geschwister, Verwandte und Bekannte in der Herkunftsfamilie sowie auch deutschsprachige Kinder, Jugendliche und Erwachsene in der Freizeit, im Vereinsleben und in der Schule. Durch die Einbeziehung aller Fächer, aller Koleg*innen und aller Unterrichtsstunden werden eine größere sprachliche Zuwendung und ein qualitativ hochwertigeres Sprachangebot erzielt. Wir vergeuden doch quantitative und qualitative Ressourcen und lassen das Engagement und die Expertise vieler Kolleg*innen brachliegen. In allen Fächern sollte sprachbewusst unterrichtet werden.
7. Verflechtung des Sprachförderung mit der Literatur
Im Folgenden werden einige Hinweise zur Erweiterung der bisherigen Sprachförderung und des integrativen Förderansatzes vorgestellt. Insbesondere wird in der Sprachförderung die Verflechtung von Stimme, Gesicht, Sprechen, Sprache, Schrift und Kinderliteratur angestrebt.
7.1 Das „sprechende“ Klassenzimmer
In Anlehnung an den Schulroman „Das fliegende Klassenzimmer“ des Schriftstellers Erich Kästner soll zum einen das Bild des sprechenden Klassenzimmers als geeignete Lerngelegenheit dargestellt werden. Zum anderen wird die Verzahnung des Sprechens mit der Kinder- und Jugendliteratur im Unterricht angebahnt. Die Sprachheilpädagogin Wilma Schönauer-Schneider8 hat mit ihrer Publikation „Sprache lernt man durch Sprechen“ „den Nagel auf den Kopf getroffen“. Das Schaffen von interessanten und erfolgreichen Sprachsituationen gilt dabei als Unterrichtsprinzip. Sprechen ist eine Kommunikationsform und gleichzeitig Ausdruck für den Sprechakt, mit dem besonders betont wird, dass Sprechen eine Handlung ist, die absichtsvolles Tun realisiert. Schall, Klang, Ton, Stimme, Ruf, Schrei, Laut, Wort, Äußerung, Rede, Mundart, Spontansprache und Sprechstimme gehören zusammen. Im Folgenden werden einige die Sprachförderung unterstützende Aspekte herausgegriffen und dargestellt.
- Gute Lehrerstimme und normale Stimmlage
Die Stimme ist das wichtigste Kapital des Lehrers, aber leicht anfällig für Stimmstörungen, begleitet von rascher Stimmermüdung, monotoner Stimmführung und Heiserkeit, verbunden mit häufigem Räuspern. Wir sollten im Unterricht mit möglichst wenig Kraftaufwand sprechen, nach dem Grundsatz der minimalen Aktion. Das geht, wir können das lernen. Die normale Sprechstimmlage meint die Tonhöhe, um die sich die Sprechmelodie des Sprechers bewegt und sich in der komplexen Sprachhandlungssituation verändert: Es geht hierbei um konkrete verbale Äußerung bestimmter Individuen zu bestimmten Zeiten, an bestimmten Orten und zu bestimmten Partnern. Alle Schüler*innen sollten sich im freien Sprechen erproben dürfen und neue Potenziale suchen. Vom lauten Aggressionsschrei auf dem Schulhof über das Flüstern beim „Pfuschen“ mit dem Banknachbarn, das freie Reden im Unterricht bis hin zum bewussten Schweigen in schwierigen Situationen muss alles erlaubt sein. Doch sollte immer wieder die normale Sprechstimmlage gesucht, bewusst trainiert und beim Sprechen berücksichtigt werden.
Übung: Ruhig sitzen, abschalten, drei Mal lang und tief ein- und ausatmen und beim dritten Ausatmen sagen: „Na ja, das ist ja gar nicht so schwer!“ Und schon haben wir die normale Sprechstimmlage erreicht. Wichtig ist hier auch der Hinweis auf die so wichtige Atmung, die auch in der Sprachförderung gerade beim Sprechen, beim Singen und lauten Vorlesen bewusst geübt werden sollte. Atmung, Stimme und Artikulation bilden eine untrennbare Einheit.
- Prosodische Sprechweise gezielter einsetzen
Der wenig bekannte, aber extrem bedeutsam Begriff der Prosodie (aus dem Griechischen: die Lehre von der Tonhöhe, metrisch-rhythmische Behandlung der Sprache) wird auch als das „Gesungene“ der Sprache bezeichnet. Die Prosodie wird von dem Neurologen und Kinderpsychiater Waldemar von Suchodoletz als eine eigene linguistische Ebene benannt, weil Auffälligkeiten in der Sprechmelodie zu Sprach- und Sprechstörungen führen können. Damit sind die Sprechausdrucksmerkmale wie Dynamik, Sprechmelodie, Betonung, Stimmklang, Rhythmus, Sprechtempo, Lautstärke, Akzente und Sprechpausen gemeint. Sprache und Sprechen, aber auch das Lesen und Rechtschreiben sind fundamental auf die genannten prosodischen Merkmale angewiesen. Auch hier spüren wir die notwendige Kraft einer integrativen Methode, die die Prosodie mit dem Sprechen bei Gedichten, dem lauten Lesen von Texten und dem korrekten Rechtschreiben aufgrund von besonderer Betonung und Sprechmelodie zusammenbringt.
- Sprechleistungsstufen erproben und entdecken
Das Sprechen der Schüler*innen kann in unterschiedlichen Situationen, bei bestimmten Personen und Themen unterschiedlich präsentiert werden. Die Logopäden Klaus Peter Becker und Milos Sovak haben das Sprechen je nach Anforderungsniveau systematisch kategorisiert und in einer Taxonomie hierarchisch abgebildet:
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Im Unterricht und in der Sprachförderung sollten alle Sprechleistungsstufen situativ mehr oder weniger trainiert werden. Die Verknüpfung von Sprechen, Hören, Lesen und Rechtschreiben wird auch in dieser Taxonomie wieder deutlich, d. h. der integrative Ansatz sollte nicht nur beim Sprechen, sondern auch beim lauten Lesen und beim Schreibgespräch erprobt werden.
- Sprechtypen im Unterricht
In Anlehnung an die Unterteilung des tschechischen Logopäden Milos Sovak haben wir den Versuch unternommen, das Sprechen von Schüler*innen und Lehrer*innen nach Charaktertyp zu ordnen, um dem konkreten Lehrer*innen-Handeln vielleicht dadurch wertvolle Hinweise bei der Unterrichtsgestaltung zu liefern:
(1) Der/die langsam sprechende, eher bedächtige und monoton wirkende Sprecher*in;
(2) der/die gut artikulierende und verständlich wirkende Sprecher*in, der bzw. die sehr kontrolliert und reflektiert in seinem Sprechen wirkt;
(3) der schnell und laut sprechende, sehr emotional wirkende Typ, der schnell aufbraust, spontan viel und leicht gefühlsorientiert spricht;
(4) der kreativ wirkende, weltgewandte und wissende Typ, der trendorientiert wirkt und sich schlagwortartig als Talkshowtyp präsentiert;
(5) der sehr abgeklärt, nüchtern und akademisch wirkende Typ, der als Sprecher*in das Ergebnis stets klar im Blick hat.
Temperament, Charaktereigenschaft, Prosodie und Persönlichkeit prägen in der Summe den persönlichen Sprechstil, der in der Spontansprache am besten und deutlichsten zum Ausdruck kommt. Im Unterricht hören wir von den Schüler*innen jedoch meist eine angestrengte Unterrichtssprache, die die Idealsprache – die Standardsprache – als Ziel anstrebt. Die Spontansprache ist aber der eigentliche Spiegel und bildet die wahren sprachlichen Fähigkeiten ab.
- Wenn Stimme, Sprechen und Sprache aufs Papier wandern
Karin Jampert und Kolleginnen9 haben die Schrift als wunderbares Mittel der Sprachförderung entdeckt. Die „lebendige Schreibmaschine“ ist gerade für Schüler*innen in der Schuleingangsphase geeignet. Der sechsjährige Juri malt ein Bild und erzählt der Lehrerin eine erlebte Geschichte. Er spricht nur wenige Worte und einfache Sätze. Die Lehrerin fragt: „Soll ich die Geschichte für dich aufschreiben?“ Juri nickt mit dem Kopf, sagt: „Ja“, und zeigt mit den Fingern, dass sie die Geschichte aufschreiben soll. Juri muss sich anstrengen und sich bemühen, eine Geschichte zu erzählen mit Anfang und Ende und einem Spannungsbogen, so wie er das vom Vorlesen kennt. Er macht immer wieder Pausen und formuliert dann seine Gedanken. Das bewusste Nachdenken über die Sprache hat begonnen. Dann liest die Lehrerin die Geschichte noch einmal vor und vergewissert sich, ob sie alles richtig verstanden und aufgeschrieben hat. So kommt zum Ausdruck, was Juri sagen wollte. Stimme, mündliche Sprache und Schrift bilden eine integrative Einheit.
7.2 Wörter haben bunte Flügel
Das Wort ist eine Grundeinheit der Sprache und des Spracherwerbs und nach Theodor Lewandowski eine für den natürlichen Sprecher intuitiv gegebene Einheit in Form, Klang und Bedeutung. Das Wort ist das wichtigste Element unserer Sprache, denn weder der Laut, die Silbe noch der Satz sind von vergleichbar großer Bedeutung. Das Wort ist der kleinste selbständige, sprachliche Bedeutungsträger. Aktuell werden immer mehr Veröffentlichungen zum Thema Worte bzw. Wörter veröffentlicht, wie z. B. „Immer mehr Kindern fehlen die Worte“ von Nina Brauch in der Zeitschrift „zeitnah“ der niedersächsischen und bremischen Lehrerschaft oder „Wenn Worte Mangelware sind“ als Hinweis zu einer Theateraufführung der Saarbrücker Zeitung. Das Thema Wort, Worte oder Wörter ist stets aktuell und wichtig, gerade in der heutigen Zeit der Corona-Pandemie und des Ukrainekriegs mit immer neuen Begriffen und Fremdwörtern. Worthülsen sind weitverbreitet und führen dann zum umgangssprachlichen „Blabla“. Immer wieder beobachten wir in Alltags- und Unterrichtssituationen, dass die Schüler*innen sich nicht gut und verständlich ausdrücken können. Offenbar, so bestätigen Erzieher*innen und Lehrkräfte in den Grundschulen, ist der Wortschatz geringer geworden. Wie der Name schon sagt, ist es ein Schatz, mit Wörtern sprachlich umgehen zu können, d. h. sie zu verstehen und sie zu produzieren. Dabei vergessen wir jedoch oft, dass es sich bei einem einzigen Wort um eine geballte Information handelt, die verschiedene Dimensionen betrifft. Es ist ein kommunikatives Gesamtpaket mit vielen Botschaften, wo verschiedene Sprachebenen und Sprachprozesse gleichzeitig angesprochen werden. Wir können uns aber auch über Theatervorstellungen freuen, die das Thema Wörter aufgreifen. Das Saarbrücker Theater Überzwerg präsentierte in den vergangenen Wochen „Die große Wörterfabrik“ nach dem gleichnamigen Bilderbuch von Agnès de Lestrade und Valeria Docampo. So reden die Menschen im Land der großen Wörterfabrik relativ wenig, weil die Wörter als etwas sehr Kostbares betrachtet werden. Man muss sie kaufen und herunterschlucken, um sie aussprechen zu können. Nur wer reich ist, kann sich wertvolle Worte leisten. So lebt der kleine Paul in einer seltsamen Welt, braucht dringend Wörter, um der hübschen Marie sein Herz ausschütten zu können. Doch für die Wörter braucht er Geld, ja ein Vermögen, das er nun mal nicht besitzt. Doch aufgepasst: An manchen Tagen fliegen die Wörter nur so durch die Luft und er kann sie fangen und aufschnappen. So hat die Tänzerin und Choreografin Katharina Wiedenhofer aus dem Bilderbuch ein Tanzstück für Kinder geschaffen. Genau das macht die Sprache interessant und attraktiv für die Kinder und das Lernen der Wörter geht ganz einfach von der Hand. Sprachliches Handeln mit Wörtern im Handumdrehen. Die Neugier und Fantasie wecken die Lust am Zuhören, am Sprechen, Erzählen, Lesen und Schreiben. Dadurch wird auch das Verstehen enorm gesteigert und das Behalten leicht gemacht und beflügelt, denn Kinder und Jugendliche finden nicht immer in allen Sprachsituationen die richtigen Worte. Wir hören doch, dass jedes Wort einen eigenen besonderen Klang hat, wir spüren doch auch die Bewegung beim Sprechen selbst, wir erleben, wie aus Wörtern Bilder werden, wir erleben, wie Wörter Träume und Gefühle wecken, wie wir mit den Wörtern regelrecht spielen lernen, wie wir aus Wörtern kleine Gespräche und Texte machen, wie wir erzählen, was wir fühlen und denken, wir gehen mit Wörtern und kleinen Geschichten auf eine Reise, wir überwinden Grenzen und erkennen, wie das auch Renate Ferrari in ihrem Buch beschrieben hat: Wörter haben bunte Flügel.
8.Strahlkraft der Fächer, Kompetenzpower der Lehrer*innen und vergeudete Ressourcen
Wir können unter Einbeziehung aller Fächer und geleisteten Unterrichtsstunden eine größere sprachliche Zuwendung (Anzahl und Dauer der Sprachkontakte) in der Schule erzielen. Wir vergeuden quantitative und qualitative Ressourcen und lassen das Engagement und die Expertise vieler Kolleginnen und Kollegen brachliegen. Die Lehrer aller Fächer sollten sprachsensibel unterrichten und in der Schule an einem Strang ziehen.
Die Sprachwirklichkeit der heutigen Kinder und Jugendlichen und damit die Gegenwartssprache der heranwachsenden Population ist sehr bunt und vielfältig: Dialekte, Umgangssprache bzw. Alltagssprache, Unterrichtssprache, Mediensprache am PC, Laptop und Fernsehen, die Jugendsprache, wie z. B. die Kiezsprache in Großstädten, machen doch die Sprache der Schülergeneration, die in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, heutzutage aus. Wir sollten in allen Fächern der Grundschule sensiblen Fachunterricht anbieten, weil ohne die gemeinsame Sprache der Unterricht und die zwischenmenschlichen Beziehungen als dynamisches Netzwerk nicht funktionieren. Unterricht lebt von der lebhaften, authentischen und dynamischen Kommunikation aller Beteiligten. Nutzen wir doch stärker als bisher in allen Fächern die vorhandenen Ressourcen und kreativen Möglichkeiten.
Abb. 6: Dynamisches Netzwerk der Fächer
Gehen wir doch einfach in die einzelnen Fächer der Grundschule hinein und fragen, was beispielsweise das Fach Musik konkret und unmittelbar für die Sprachförderung und das Sprachhandeln leisten kann.
Abb. 7: Sprachwahrnehmungsleistungen
Alle Sprachwahrnehmungen, die für das Sprechen, Zuhören, Erzählen, Lesen und Schreiben notwendig sind, werden durch das Singen eines Liedes gefördert. Das sind wichtige Sprachanalysatoren, die für korrekte und deutliche Aussprache und die eingesetzte Stimme mit ihren Stimmlagen wichtig sind. Mit dem Sprechen, Klatschen und Vorlesen des Liedtextes allein, zu zweit, zu dritt, in der Gruppe und Klasse und dem Chorlesen fördern wir fast unbewusst die phonematische Differenzierungsfähigkeit und phonologische Bewusstheit aller Schüler*innen. Und das alles geschieht fast simultan, und zwar genau so, wie es die Sprachwirklichkeit von uns allen Tag für Tag meist unbewusst fordert. Genau darin besteht die hohe Kunst der Sprachförderung. Also nutzen wir doch die vielen täglichen Gelegenheiten, unsere Sprache zu fördern, zu fordern und zu formen. Die Expertise aller Kolleg*innen und die hohe Bedeutung jedes einzelnen Faches für die Entwicklung der Sprache und Förderung der Persönlichkeit sind doch entscheidend. Wir müssen alle im Kollegium an einem Strang ziehen!
9. Sprachförderung der Zukunft
Die Schule ist der einzige Ort, wo die Förderung der Sprache, des Sprechens, aber auch des Lesens und Schreibens hingehört. Schule und Lehrer*innen müssen das Heft im wahrsten Sinne des Wortes wieder in die Hand nehmen und die Sprachförderung und Schriftaneignung vom ersten Schultag an als eine gemeinsame Aufgabe der Grundschule betrachten, d. h. integrativ und nicht exklusiv und an einen externen Träger ausgelagert arbeiten!
- Die Verordnung zum Unterricht für ausländische Kinder, Jugendliche und Heranwachsende sowie Schüler*innen mit Migrationshintergrund vom 3. August 2015 sowie das saarländische Schulpflichtgesetz erlauben die Konstruktion der „unterrichtsintegrierten Sprachförderung“. In § 2 heißt es: „Schüler und Schülerinnen mit Migrationshintergrund sollen gemeinsam mit Schülern und Schülerinnen ohne Migrationshintergrund unterrichtet werden, soweit mangelnde Kenntnis der deutschen Sprache diesem Ziel nicht entgegensteht.“ Nur wenn die Schüler*innen dem Unterricht einer Klasse nicht folgen können, sind besondere Sprachfördermaßnahmen vorzuhalten. Zu den Maßnahmen zählen Vorbereitungsklassen, Intensivkurse und Förderstunden. In diesen besonderen Unterrichtseinrichtungen sollten besonders ausgebildete Lehrkräfte unterrichten!
- Professionalisierung durch Grundschullehrer*innen
Nach dem Lernforscher John Hattie sind bis zu 30 % der Leistungen der Schüler*innen von der professionellen Kompetenz (Wissen, Erfahrung) der Lehrkraft abhängig. In den Grundschulen sollten nur Grundschullehrer*innen eingesetzt werden, die eine zusätzliche Qualifikation hinsichtlich Sprachförderung erworben haben.
- Sprecherziehung für alle Lehrkräfte
Nicht wenige Lehrkräfte haben bereits im Studium und Referendariat das Bedürfnis, etwas mit der eigenen Stimme zu unternehmen, d. h. sie zu überprüfen („Ist meine Stimme belastbar?“) und an ihr im Sinne von Stimmhygiene zu arbeiten. Sprecherziehung und ein Sprachtest zu Beginn des Lehrerstudiums sollten verpflichtend in der Lehraus- und -fortbildung implementiert werden.
- Verstetigung der Förderkonzeption
Die Projektphase in der Grundschule sollte beendet und durch ein Verstetigungskonzept „Unterrichtsintegrierte Sprachförderung 1–4“ ersetzt werden, das nahtlos an die „alltagsintegrierte Sprachbildung“ im vorschulischen Bereich anschließt. Gerade Schüler*innen mit Deutsch als Zweitsprache brauchen mehr Zeit, und zwar drei bis sieben Jahre, um die deutsche Sprache in Wort und Schrift zu erlernen.
- Haushaltstitel und Planstellen
Jede Grundschule braucht eine feste Planstelle für eine Grundschullehrerin, die ausschließlich die Sprachförderung inhaltlich, personell, strukturell und materiell managt – sozusagen eine „Sprachmanagerin“. Wir haben doch kein Wissens- und Finanzproblem, wir haben ein Evaluations- und Entscheidungsproblem. Die heranwachsende Population hat ein Recht darauf, in der deutschen Sprache und im Sprechen angemessen ausgebildet zu werden.
- Qualitätssicherung durch Wirkungsforschung
Die Begleit- und Wirkungsforschung sollte alle Prozesse der Sprachförderung eng begleiten, um die Frage beantworten zu können: Was hat die Sprachförderung dem Einzelnen gebracht? Das ist die alles entscheidende Frage. Die Kosten-Nutzen-Relation sollte auf jeden Fall diskutiert werden.
- Familiärer Lebenskontext
Alle verfügbaren Studien und Daten belegen die hohe Wirkung der Elternmitwirkung im Rahmen der Sprachförderung. Anleitung und Beratung der Eltern sparen Kosten und Zeit. Wenn die Eltern dann auch noch zu einer wertschätzenden Einstellung und Haltung gegenüber der deutschen Sprache bewogen werden können, werden Zeit, Arbeit und Kosten gespart.
- Aufwachsen mit mehreren Sprachen
Die Förderung der Mehrsprachigkeit durch ein tolerantes und vielseitiges Aufwachsen mit mehreren Sprachen kann die kognitive Lernkompetenz und das Selbstbewusstsein der Schüler*innen im Sinne von Empowerment stärken. Damit werden auch die Bestrebungen der saarländischen Landesregierung (die seit Jahren „vor sich hin dümpelnde“ Frankreichstrategie) aufgegriffen und über die Scaffolding-Methode im Sinne einer konzertierten Aktion begleitet und unterstützt. Hier können niedrigschwellige Angebote und das Mitmachportal zur Partnersprache Französisch bestens genutzt und mit der unterrichtsintegrierten Sprachförderung verknüpft werden.
Ausblick
Claudia Polzin-Haumann als Co-Direktorin für Sprachen und Mehrsprachigkeit an der Saar-Universität weist darauf hin, dass wir mittlerweile wissen, wie man das Sprachenlernen so gestalten kann, dass es auch wirklich gelingt. Wir sind aufgefordert, die im Saarland seit Jahren publizierten Konzepte, die meist nebeneinanderher existieren,
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konzeptionell zu einem Rahmenkonzept der „unterrichtsintegrierten Sprachförderung“ zu integrieren.
Abschließend sollen noch einmal die wichtigsten Merkmale der „unterrichtsintegrierten Sprachförderung“ genannt werden.
Abb.8: Gute Sprachförderung
Die „unterrichtsintegrierte Sprachförderung“ zeigt, wie über die sensible und bewusste Wahrnehmung der Sprache und des Sprechens neue Potenziale und bisher ungeahnte Handlungsmöglichkeiten entdeckt werden können. Sprachförderung darf kein zusätzliches Angebot und kein isoliertes Bildungsthema sein. Wir sollten die Stimme, das Gesicht, das Sprechen, die mündliche Sprache mit der Schrift und Literatur integrativ verknüpfen und integriert in den Unterrichtsalltag einbinden. So gelangen die Schüler*innen zu ihrem persönlichen Well-Being und gesellschaftlichen Wohlergehen. Sie können die Frage „Was hat mir das Ganze jetzt gebracht?“ positiv beantworten und mit einem guten Gefühl die Sprachförderung selbstwirksam verlassen.
Die Sprachförderung der Zukunft ist eine „soziale, personengebundene Dienstleistung“ in allen Unterrichtsfächern zur Entwicklung der Persönlichkeit. Sie sollte die Komplexität der Sprachwirklichkeit akzeptieren, die Vielseitigkeit der Gegenwartssprache(n) stärker nutzen, die persönliche Gestaltungskompetenz und individuelle Handlungsfähigkeit mit der Sprache und durch die Schrift für die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit gezielter einsetzen. Dabei sollten wir endlich auch den Mut aufbringen, nicht nur nach dem „pädagogischen Drehbuch“ vorgefertigte und routinierte Situationen einzuplanen, sondern auch nicht vorhergesehene Sprachsituationen zulassen und dann den „berühmten“ Plan B bewusst aktivieren. Die Spontansprache ist gefragt; sie ist die wichtigste Informationsquelle über die sprachlichen Fähigkeiten.
Literatur
1.Rothweiler, Monika/Ruberg, Tobias (Hrsg.): Der Erwerb des Deutschen bei Kindern mit nichtdeutscher Erstsprache. WiFF Expertisen 12, Deutsches Jugendinstitut, München, 2011.
2.Bertelsmann Stiftung/Deutsche Telekom Stiftung/Education Y e. V./Global Goals Curriculum e. V. & Siemens Stiftung (Hrsg.).
OECD Lernkompass 2030. Gütersloh, 2020.
3.Andreas, Michael/Andreas, Renate: Praxisbuch für den kompetenten Rechtschreibunterricht. Neue Erkenntnisse – neue Wege. 2. überarbeitete Auflage. Baltmannsweiler, Schneider Verlag Hohengehren, 2022.
4.Weis, Ingrid: Die Welt der Zahlen braucht die Sprache. Grundschule, Heft 8, 2017, 24–27.
5.Saarland (Hrsg.): Verordnung zum Unterricht für ausländische Kinder, Jugendliche und Heranwachsende sowie Schüler und Schülerinnen mit Migrationshintergrund. Vom 3. August 2015 (Amstbl. I S. 540). Saarbrücken.
6.Suchodoletz, Waldemar von: Sprech- und Sprachstörungen. Göttingen, Hogrefe, 2013.
7.Grob, Alexander/Keller, Karin/Trösch, Larissa: Zweitsprache. Universität Basel, 2014.
8.Schönauer-Schneider, Wilma: Sprache lernt man nur durch Sprechen. Bausteine zur Sprachförderung im Unterricht. LMU, München, 2006.
9.Jampert, Karin/Zehnbauer, Anne/Beste, Petra/Sens, Andrea/Leuckefeld, Kerstin (Hrsg.). Kinder-Sprache stärken! Aufwachsen mit mehreren Sprachen. Deutsches Jugendinstitut. Heft 3. verlag das netz, Weimar/Berlin, 2009.
Herbert Günther