LuSh – Ausgabe 05/2021 – Dies und Das – Direkte Zuwendung wird immer wichtiger
Direkte Zuwendung wird immer wichtiger
In Coronazeiten ist viel an direkten Kontakten verloren gegangen. Das muss dringend aufgeholt werden. Häufig konzentriert sich die Planung des Unterrichts zudem auf die Aufbereitung der Unterrichtsinhalte. Hier wird der Vorschlag gemacht, für die Stunden einer Woche ein Tableau gezielter Interaktionen zu entwickeln. Zuerst die Übersicht:
Übersicht: Tableau beabsichtigter direkter Interaktionen
- Den Schüler kann man laufen lassen, der organisiert sich selbst. Ich muss aber daran denken, dass die Herausforderungen/Ansprüche immer groß genug sind.
- Der Schüler hat genug Stützsysteme von zu Hause. Ich kann mich auf die kognitive Arbeit bei ihm konzentrieren.
- Der Schüler muss ständig angeleitet werden, er kann sich noch nicht selbst organisieren und hat kein Durchhaltevermögen. Verhaltensstützen im Sinne eines Sets von Regeln, Zuwendungen und leistbaren Aufgaben sind ständig neu zu justieren.
- Bei der Schülerin werden wieder Unterlagen fehlen. Helfe ich noch einmal oder ist jetzt Schluss?
- Bei dem Schüler muss ich mich um einige außerschulische Probleme kümmern. Elternarbeit ist verstärkt angesagt (Telefongespräche oder Gesprächsverabredungen oder gar Besuche).
- Mit der Schülerin werde ich jede Woche in den Phasen der Freiarbeit 10–15 Minuten in Einzelbetreuung arbeiten, um das Aufgabenverständnis zu fördern und die kleinen Unachtsamkeiten/Oberflächlichkeiten zu minimieren.
- Bei der Schülerin muss ich in jeder Stunde zu erwartenden Störungen (unkontrolliertem Hineinreden, Nebengesprächen, Stuhlkippeln, verzögertem Arbeitsanfang, grundlosem Lachen u. a. m.) frühzeitig vorbeugen durch direkte Ansprache, Veränderung der Sitzordnung, spezielle Aufgaben.
- Bei dem Schüler muss ich Intensivarbeit leisten, z. B. bei ständigem Zuspätkommen morgens anrufen, ihn evtl. sogar abholen.
- Bei der Schülerin brauche ich selbst Hilfen, weil offenbar bestimmte Defizite vorliegen, bei denen ich nicht so genau Bescheid weiß (sozial-emotionale Störungen, Dyskalkulie, AHDS, Legasthenie). Ich nehme Kontakt auf mit Kollegen, mit dem Beratungslehrer, dem Schulpsychologen.
- Tage der besonderen Aufmerksamkeit
- Einzelunterrichtungen und Kleingruppenarbeit
- Paten-, Helfer- und Tutorensysteme
- Familiengruppen
- Programme zur Umstrukturierung der subjektiv negativ wahrgenommenen Realität
- Pädagogik der Auszeiten
- Trainingsraummethode
- Integrative Tagesgruppen
Beziehungsstrukturen – systematischer bedacht
Das betrifft zunächst Pläne für den je einzelnen Schüler. Wenn man sich Tage der besonderen Aufmerksamkeit/Zuwendung vornimmt, bedeutet das konkret, dass man sich für die bevorstehende Woche vornimmt, einzelne Schüler oder kleine Gruppen besonders zu beachten.
- Wenn es im Unterricht Zeiten selbstständigen Arbeitens regelmäßig gibt, wird es möglich, ständig Einzelunterrichtungen bzw. Kleingruppenarbeit zu praktizieren.
- Die Einrichtung von Paten-, Helfer- und Tutorensystemen. Sie können klassenintern bei der immer gegebenen Heterogenität Leistungsunterschiede produktiv nutzen. Wer das Neue schon verstanden hat, kann es einem anderen erklären und dabei gleich prüfen, ob er es selbst wirklich verstanden hat.
- Die Familiengruppe ist für die herkömmliche Organisation der Schule zunächst etwas fremd. Gemeint ist eine relativ feste soziale Binnenstruktur in einer Klasse. In allen Phasen der Lernarbeit, die der gemeinsamen Erarbeitung in der Klasse folgen, organisiert die sog. Familiengruppe ihre Arbeit. Der feste Zusammenhalt schafft emotionale Sicherheit.
- Programme zur Umstrukturierung negativer Befindlichkeiten sollten zentraler Bestandteil sein. Dies beginnt bei der Umstrukturierung der subjektiv negativ wahrgenommenen Realität. Wenn z. B. ein Schüler meint, nur durch regelwidriges Verhalten seine Rolle definieren zu können, wird es wichtig, alternative Verhaltensmöglichkeiten aufzuzeigen, die soziale Anerkennung sichern. Das heißt konkret, dass z. B. der sich dauernd nicht konform verhaltende Schüler ein Amt bekommt (z. B. die Anwesenheitsliste führen, Spielausgabe in der Mittagszeit, Geld einsammeln für eine Klassenfahrt). Das setzt sich fort mit vorbeugendem Eingreifen in Unterrichtssituationen. Wenn eine Schülerin z. B. mit großer Wahrscheinlichkeit gleich wieder Zank und Streit in der Klasse beginnen wird, wird es wichtig, sie vor negativen Reaktionen (Ablehnung) zu bewahren. Wenn ein Schüler mit sog. Überhangeffekten nicht fertigwird – gerade hat es ein „mangelhaft“ in einer Mathematik-arbeit gegeben, jetzt steht er hilflos vor einer Aufgabe an der Tafel –, ist eine sog. Programmdiät hilfreich, also eine Dosierung von Belastungen, um einen Ich-Zusammenbruch zu vermeiden. Überhangeffekte sind ein momentanes Zuviel an zu verarbeitenden Erlebnissen (Frust, Misserfolg, Streit, Bloßstellung). Programmdiät beinhaltet: Beschützendes Eingreifen in Konfliktsituationen (ein Mädchen aus dem Streit mit anderen herausholen) kann wichtig sein. Die Entgiftung von Erlebnissen durch das Besprechen/Reflektieren von Verhaltensweisen (Ulrike hat das doch ganz anders gemeint, du musst aber auch verstehen, dass sich am Kiosk keiner vordrängeln kann) wie der Aufbau realistischer Rollenerwartungen (du überforderst dich dauernd, nimm dir erst einmal diese (einfachere) Aufgabe vor) sind weitere Maßnahmen wie auch die Nutzung gruppenpsychologischer Sicherungen (Einbindung in feste Gruppenstrukturen), wenn ein Schüler noch nicht stark genug ist, um eigenständig Regeln einzuhalten. Dies sind alles in allem Individualprogramme.
- Kooperatives Lernen – vielleicht für viele Lehrerinnen und Lehrer eine Selbstverständlichkeit – ist eine Grundbasis für eine positive Beziehungskultur:
- Gemeinsamer Tagesanfang (Gespräch, Austausch, kleine Rituale)
- Gemeinsame Planungsphasen für den Tag oder die Woche in ihrem Ablauf und ihren Inhalten
- Gemeinsame Bewegungs-, Essens-, Spielzeiten
- Ständige Phasen der Zusammenarbeit am Tisch oder in wechselnden Formationen
- Häufigere Projektarbeit, die per se Kommunikation und Kooperation verlangt (Projekttage)
- Häufige Feedbackphasen für den Austausch über Gelungenes und Verbessernswertes
- Wochenanfangs- und Wochenschlusskreise zur Zielerörterung und Ergebnispräsentation.
- Unter dem Begriff Pädagogik der Auszeiten ist ein Ansatz zu fassen, der in Phasen besonderer Belastung Schülern ermöglicht, zeitweise aus den alltäglichen Pflichten auszuscheren, um erst einmal wieder zu sich selbst zu kommen.
- Die Trainingsraummethode basiert auf dem Grundgedanken, dass jeder Schüler / jede Schülerin das Recht hat, ungestört zu lernen. Wenn es einem Schüler zeitweise nicht möglich ist, die dafür notwendigen Regeln einzuhalten, wechselt er aus dem laufenden Unterricht in den sog. Trainingsraum, um über seine Befindlichkeiten in Ruhe nachzudenken, Veränderungen des eigenen Verhaltens zu überlegen und aufzuschreiben.
- Aus dem Bereich der Förderpädagogik gibt es den Ansatz, sog. schulintegrative Tagesgruppen einzurichten. Wenn Schüler in der Regelklasse nicht ständig mitarbeiten können, wird spontan eine schulintegrative Tagesgruppe eingerichtet. Die Betroffenen bleiben Mitglied ihrer Klasse, werden aber zeitweise einer solchen Gruppe zugeordnet, die eine Art von Intensivbetreuung erfährt. Das kann für einen Tag erfolgen, das kann aber auch über mehrere Tage hinweg praktiziert werden.
Manfred Bönsch