LuSh – Ausgabe 0304/2023 – Vorwort – Theorie und Praxis…
Theorie und Praxis…
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Anfang dieses Jahres hat die „Ständige Wissenschaftliche Kommission“ der Kultusministerkonferenz (SWK) in einer Stellungnahme ihre „Empfehlungen zum Umgang mit dem akuten Lehrermangel“ vorgelegt.
Dabei ist zunächst einmal festzuhalten, dass von einem Lehrkräftemangel gesprochen wird (Stellungnahme SWK, 2023, S. 6 und 8). Alle Lehrerverbände, auch der SLLV, weisen auf diesen Tatbestand bereits seit Jahren hin. Er wurde jedoch immer verneint. Die Theoretiker haben den Praktikern keinen Glauben geschenkt. Wie sehr Theorie und Praxis voneinander abweichen, werde ich anhand der Empfehlungen der Kommission (S. 9 ff.) anhand einiger Beispiele im Folgenden exemplarisch aufzeigen.
Erschließung von Beschäftigungsreserven bei qualifizierten Lehrkräften im oder kurz vor dem Ruhestand
Die Praxis zeigt eher, dass die Arbeitsbelastungen in den letzten Jahren derart zugenommen haben, dass Lehrkräfte zu Lohnverzicht bzw. Pensionsschmälerung bereit sind, weil sie sich nicht länger imstande sehen, den vielfältigen Anforderungen noch gerecht zu werden, oder um ihre Gesundheit fürchten. Wenn man Arbeitskräfte zu Mehrarbeit jeglicher Form zwingt, werden die Krankenstände unweigerlich höher. Die Kommission ist blauäugig, wenn sie bei den derzeitigen Gegebenheiten davon spricht, ältere Kolleginnen und Kollegen durch organisatorische Regelungen individuell vor Ort zu entlasten. Wie soll das bei einem strukturell dauerhaften Personalmangel umgesetzt werden? Ähnliches gilt für eine Erhöhung der Unterrichtsverpflichtung als Vorgriffsstunden oder Arbeitszeitkonten. Ich wurde in meiner beruflichen Laufbahn bereits zu Vorgriffsstunden gezwungen, die ich dann zu einem späteren Zeitpunkt bereits wieder abbauen musste.
Lehrkräfte in Teilzeit
Die Kommission rät zur Beschneidung von Teilzeitmöglichkeiten. Auch dieser Punkt ist realitätsfern. Ich habe die Irrungen und Wirrungen der Bildungspolitik am eigenen Leib mit Zwangsteilzeit erleben dürfen. Damals durfte ich nicht mehr als das halbe Unterrichtsdeputat unterrichten und im Alter soll die Teilzeit nicht möglich sein? Das ist grotesk. Denn im Alter geht es auch um Gesundheitsvorsorge. Hier sorgt sich nicht der Staat um seine Bediensteten, sondern diese verzichten ggf. erneut auf Einkünfte im Gegenzug für ihre Gesundheit. Auch junge Kolleginnen und Kollegen entscheiden sich bewusst für Betreuungsarbeit in der Familie oder sind dazu gezwungen, weil eine verlässliche Kinderbetreuung noch immer nicht der Regelfall ist.
Entlastung der Lehrkräfte von Organisations- und Verwaltungsaufgaben
„Neben der Kernaufgabe des Unterrichtens übernehmen Lehrkräfte auch zahlreiche Organisations- und Verwaltungsaufgaben. Diese reichen von der Beschaffung von Unterrichtsmaterialien über die Betreuung von Bibliotheken, Fachräumen und IT-Ausstattung bis hin zur Organisation von Klassenfahrten (Mußmann & Hardwig, 2022). Für diese Aufgaben erhalten Schulen Anrechnungsstunden. Eine angemessene Ausstattung mit Verwaltungspersonal und weiterem nicht pädagogischem Personal kann Lehrkräfte deutlich entlasten und Ressourcen für die unterrichtlichen Kernaufgaben freisetzen. Die SWK empfiehlt, eine systematische Aufgabenkritik der Tätigkeit von Lehrkräften vorzunehmen und auf dieser Grundlage dauerhaft Stellen für Verwaltungspersonal und weiteres pädagogisches Personal zu schaffen (S. 13 f.).“ – Hier fehlen mir einfach die Worte, um dies noch eingehender zu beschreiben. Der SLLV fordert dies seit Jahren, aber es gab und gibt immer tausend Gründe, warum die Politik es nicht durchsetzt.
Flexibilisierung durch Hybridunterricht, Erhöhung der Selbstlernzeiten sowie Anpassung der Klassenfrequenz
„Die SWK empfiehlt, Modelle des Hybridunterrichts in gymnasialen Oberstufen, in denen die nötige digitale Infrastruktur vorhanden ist, zu erproben; für den Fall, dass mehr Korrekturaufgaben auf die betroffenen Lehrkräfte zukommen, diesen qualifizierte Korrekturassistent:innen an die Seite zu stellen“ (Stellungnahme SWK, S.21).
Hier wird eindeutig eine Erprobung präferiert, wenn die digitale Infrastruktur vorhanden ist! Außerhalb der Oberstufe ist ein derartiges Vorgehen kaum vorstellbar. Dem wird jede Lehrkraft zustimmen, die im Vertretungsunterricht zwei Klassen gleichzeitig betreuen muss. Wie an so vielen Stellen zeigen sich die Kommissionsmitglieder praxisfern oder wer hat schon eine qualifizierte Fachkraft für Korrekturaufgaben in Aussicht?
Die Belastungen steigen stetig, aber die multiprofessionellen Teams sind noch nicht in ausreichendem Maße Realität! Von Unterstützungssystemen wird geredet, aber auch hier fehlen die Mittel und das Personal. Trotzdem sollen die Klassen immer größer werden! Heterogene Klassen, Schülerinnen und Schüler, die eine Vielzahl von Problemen mit in den Unterricht bringen, dies alles überfordert auch die engagierteste Lehrkraft auf Dauer!
Vorbeugende Maßnahmen zur Gesundheitsförderung
Die von der Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen (S. 28) rufen im besten Fall Kopfschütteln bei den Betroffenen hervor. Das dort gepriesene Achtsamkeitstraining wirkt angesichts der gravierenden Probleme, die auf dem Rücken der Lehrkräfte ausgetragen werden, wie blanker Hohn.
Fazit: Wissenschaftler und Politiker müssen aus ihren Elfenbeintürmen herauskommen und vor Ort, nicht nur für einen kurzen Pressetermin, sondern zum Beispiel im Rahmen eines mindestens einwöchigen Praktikums, an Schulen mitarbeiten. Nur so wäre sichergestellt, dass sie das ganze Ausmaß der Bildungsmisere und den kräftezehrenden Einsatz so vieler Lehrerinnen und Lehrer erkennen.
Der SLLV und viele andere Lehrerverbände prangern die Missstände seit Jahren an, aber es hat sich trotzdem zu wenig getan. Mit Hinweis auf fehlende Finanzen werden wir so oft ausgebremst!
Wir brauchen mehr Unterstützung, damit sich die Arbeitsbedingungen nachhaltig verbessern, und dazu gehören auch familienfreundliche Arbeitszeitmodelle für derzeitige und künftige Lehrkräfte. Der Lehrberuf muss attraktiver werden. Schulleitungen müssen entlastet werden, um Schulen voranzubringen. Eine gerechte Besoldung für alle, mehr Unterstützung und kleinere Klassen – dies alles sind langjährige, aber immer noch aktuelle Forderungen des SLLV!
Mit kollegialen Grüßen
Elke Boudier
(stellvertretende Landesvorsitzende)