LuSh – Ausgabe 09/2022 – Dies und Das – Handlungsorientierung
Handlungsorientierung
1. Begriffliches und Historisches
Handlungsorientierung wurde vor so einigen Jahren breit diskutiert, mitunter ohne historische Bezüge, so als wenn der Gedanke ganz neu wäre. Dabei ist dieser Ansatz – einer im Vergleich zum kognitiv dominierten Frontalunterricht – anderen Unterrichtsgestaltung historisch gesehen alt. An der Begriffskette „Tatanschauung (Fröbel) – Arbeitsschulprinzip (Kerschensteiner) – learning by doing (Dewey) – das Ingenium des Praktischen (Möller) – Bildung durch Gebrauch der Hände und Füße (Wetterling) – das Denken an den Sachen entlang (O. Wagner) – operationales Lernen (Piaget) – das schöpferische Tun (Metzger)“ entlang könnte man die Historie breit entfalten. In der Neuzeit ist durch H. Meyer und H. Gudjons mehr durch ein Aspektkonglomerat die Neubegründung erfolgt: Das Lernen hat kognitive, emotionale und praktische Aspekte (die alte Pestalozzische Trias von Kopf, Herz und Hand), Lebens- und Situationsbezug, Orientierung an den Interessen der Beteiligten, Mit- und Selbstverantwortung, Einbeziehen vieler Sinne, soziales Lernen. Da wird manches miteinander verknüpft, was einen so engen Zusammenhang gar nicht hat, wenn Begriffsklarheit nicht völlig verlorengehen soll. Zudem ist die dann und wann zu beobachtende Gleichsetzung von Handlungsorientierung und praktischem Lernen eher störend als hilfreich. Sie stimmt so nämlich nicht. Eine möglichst klare Definition des Begriffs ‚Handlung‘ kann zur Klärung am ehesten beitragen:
Die Handlung ist eine sinnbestimmte, für die Beteiligten also relevante Bearbeitung einer Thematik, die in Planung, Durchführung, Ergebnis und Auswertung von einer Gruppe oder von Einzelnen getragen wird, die immer kognitive Elemente (Überlegen, Erörtern, Planen, Steuerung der Durchführung, Bewertung der Ergebnisse) enthält, mit der man sich identifiziert (es ist „unsere Sache“), die Gebrauchswert hat (mit dem Ergebnis wollen wir etwas erreichen – Darstellung, Dokumentation, etwas bewegen, etwas verändern –) und die häufig praktische Tätigkeiten (Herstellen, Bauen, Zeichnen, Mitteilen, Durchführen) und Ergebnisse beinhaltet (Bilder, Collagen, Modelle, Ausstellungen, Schul-/Sportfeste, Bücher, Filme u. a. m.) beinhaltet.
Mit dieser Definition wird deutlich, dass handlungsorientiertes Lernen nicht identisch ist mit praktischem Lernen. Die Handlung setzt umfassender an und bindet praktische Tätigkeiten in einen Handlungskontext ein. Gegenüber dem häufigeren rezeptiven Lernen (Vorgegebenes ist aufzunehmen, zu speichern und nach Aufforderung zu reproduzieren) wird aber auch klar, dass Handlungsorientierung dem Lernen Sinn, Geplantheit, Lebensrelevanz, Steuerbarkeit, Aufgeklärtheit und gelegentlich auch gesellschaftlich-politische Bedeutung geben kann.
Der zugrundeliegende Lernbegriff konstituiert sich aus verschiedenen Quellen. Er orientiert sich an der Aneignungstheorie materialistischer Psychologie (Interiosationstheorie Galperins z. B., nach der Weltaneignung sinnlich-praktische Aneignung ist und die materialisierte Handlung geistige Operationen ‚einspurt‘, Versprachlichung und Bewusstmachung sie begleiten. Er korrespondiert mit der Entwicklungspsychologie Piagets, nach der formal-theoretische Operationen auch ontogenetisch konkret-praktischen Operationen folgen. Er zielt auf ganzheitliches Lernen, das Lernenden erlaubt, die ganze Person (Kopf – Herz – Hand – alle Sinne) im Lernprozess zu aktivieren. Es soll sinnvolles Lernen sein (man ist an etwas beteiligt, was man für wichtig und interessant hält; man ist an Planung, Durchführung und Auswertung beteiligt). Und es revitalisiert die Vorstellung von aufklärerischem Lernen, nach der sinnlose „Wissensmast“ keinen Sinn macht.
In der Zusammenfassung könnte man sagen, dass Handlungsorientierung Signum für wirklich bildendes Lernen ist.
2. Didaktisch-methodische Ausmessungen
Auf dieser Grundlegung lässt sich der Ansatz der Handlungsorientierung genauer in seiner Reichweite ausmessen. Da Wissen häufig ‚fertig abgepackt‘ vermittelt wird, bleibt es ebenso häufig sinnlos. Braucht man aber Wissen, um etwas zu klären, zu besorgen, zu bewegen, herzustellen, zu verändern, wird das Verhältnis zu diesem Wissen ganz anders. Handlungsorientierung will ein anderes Verhältnis zu bearbeiteten Unterrichtsinhalten. Empfinde ich etwas als nützlich, vielleicht sogar wichtig für mich, für uns, für andere, entsteht ein Sinnzusammenhang, der motiviert, bewegt im ursprünglichen Sinn des Wortes.
Die Folgen sind massiv: Planung wird zur Lernaufgabe für Schüler/-innen, Lehren wird komplexer und schwerer (Beraten, Helfen, notwendige Kompetenzen kurzfristig vermitteln, vielfältige Aktivitäten beobachten und zum Ergebnis führen, sich offenen Situationen stellen u. a. m.), Lernen wird ebenfalls komplexer und verantwortungsvoller (man muss mehr und Unterschiedliches tun und ist für die Ergebnisse – ob gut oder schlecht – mitverantwortlich), Handlungsaufgaben und entsprechende Materialien sind gefordert, der Zeitrahmen wird sich ändern (weg von der 45-Min.-Einheit), außerschulische Experten sind erwünscht. Der anzustrebende Gebrauchswert wird aber von vornherein unterschiedlich zu dimensionieren sein. Er mag für die Beteiligten ein Gewinn sein, er mag in einer Mitteilung an andere Schüler*innen bestehen, sich in einer Ausstellung dokumentieren. Er mag seine Bedeutung auch von außerhalb der Schule bekommen (Zeitungsberichte, Anfragen an die Stadt, an eine Institution, an eine Firma, konkrete Aktivitäten wie z. B. der Besuch alter Menschen). Er mag in einer anderen Qualität des Unterrichts liegen (mehr forschend-entdeckende und experimentelle als Papier-Bleistift-Verfahren).
Dies zu betonen, erscheint wichtig, um die Erwartungen an handlungsorientierten Unterricht nicht zu überspannen! Das schulische Lernen ist nicht insgesamt umzustellen. Man muss eine Menge Wissen von einem Bereich haben, ehe man in die Lage kommt, Probleme, Fragen zu formulieren, Handlungspläne zu entwickeln. Man braucht eine ganze Menge von Handlungskompetenzen (Planungs-, Kooperationsfähigkeit, Lern- und Arbeitstechniken), wenn man handlungsorientiert lernen will.
3. Idealtypus und Dimensionen
Da ein didaktischer Gedanke seine praktische Relevanz umso eher bekommt, je klarer die Vorstellungen sind, die sich mit ihm verbinden – viele gute Ideen liegen brach, weil ihre ‚Machbarkeit‘ nicht gesehen wird –, soll im Folgenden der Idealtypus von handlungsorientiertem Unterricht dargestellt und eine Dimensionierung von Möglichkeiten vorgenommen werden (Verdichtungen und Verdünnungen).
3.1 Der Idealtyp handlungsorientierten Unterrichts
Der Idealtyp zeigt sich in der klassischen Form der Projektarbeit. Diese lässt sich im Unterschied zu mannigfaltigen Formen der Projektorientierung (bis hin zum alternativen Unterricht, bei dem sich plötzlich auch wieder lehrgangsartige Bearbeitungen von Lerninhalten, z. B. in Projektwochen, zeigen) folgendermaßen bestimmen:
Projektinitiative: ein Thema, ein Anliegen, eine Aufgabe wird gefunden oder sie ergibt sich aus aktuellen Anlässen oder aus dem Fachunterricht. Diese Projektinitiative kann von jedem Beteiligen (Schüler/-in, Lehrer/-in) kommen. Sie muss sich aber im Diskurs verfestigen, konkretisieren. Sie kann auch bei genauerer Prüfung verworfen werden.
Projektplan: Verfestigt sich die Projektinitiative, ist ein Projektplan zu entwerfen. Alle Beteiligten sind dabei involviert. Die guten Fragen sind zu formulieren, ein Arbeitsplan ist zu erstellen, der Gebrauchswert, der sich im Projektprodukt manifestiert, ist frühzeitig zu identifizieren.
Projektdurchführung: In arbeitsteiliger Weise sind Informationen zu erarbeiten, ist auf das Projektprodukt hinzuarbeiten (Dokumentation, Aufführung, Appell, Veranstaltung, Initiative u. a. m.). Die Steuerung der Arbeit ist Aufgabe aller Beteiligten: das Vorgehen ist auf seine Effektivität hin zu prüfen, die Kooperation ist zu optimieren, Konflikte sind zu bearbeiten, das intendierte Ergebnis ist u. U. neu verändert zu formulieren u. a. m.
Projektprodukt und -reflexion: Ergebnisse sind darzustellen und die Erfahrungen sind zu reflektieren. Vortrag, Darstellung, Demonstration, Ausstellung, Durchführung, was immer das Produkt sein mag, liegen vor. Der Weg zu ihm hin bedarf der Analyse, um für künftige Projekte Konsequenzen zu gewinnen.
3.2 Dimensionen handlungsorientierten Unterrichts
Wer an real durchgeführtem Unterricht interessiert ist, erkennt schnell, dass die Idealform nicht den Alltag bestimmen wird. Handlungsorientierter Unterricht bleibt eine „Orchidee“, wenn die Beschreibung unterschiedlicher Dimensionen nicht auch die „Flora der Feldblumen“ einbezieht. Sechs Dimensionen werden in absteigender Linie beschrieben. Ihre Funktion ist, auch in kleinen Formen Handlungsorientierung identifizieren zu können.
Erste Dimension: Der Idealtypus der Projektarbeit ist in der oben beschriebenen Weise zunächst zu benennen. Beispiele könnten sein: in der Schule wird eine Cafeteria eingerichtet und betrieben; ein Schullandheimaufenthalt wird in all seinen Aspekten geplant, durchgeführt und ausgewertet; mit der Gemeinde werden Möglichkeiten alternativer Jugendarbeit besprochen und ggf. realisiert; für ein Altenheim werden Literatur- und Musiknachmittage geplant und durchgeführt u.a.m.
Zweite Dimension: Simulierte Wirklichkeiten schaffen Handlungsanlässe. Mit dem Begriff der simulierten Wirklichkeit sind didaktische Konstruktionen gemeint, in denen wirklichkeitsnah, aber doch in einem geschützten Lernrahmen Handlungen durchgeführt werden können. Beispiele sind: Der Schulverkehrsgarten, Unternehmensführung im Planspiel, die Fahrradwerkstatt in der Schule, das Schultheater, das Schülerparlament, der Schulgarten, der Schulzoo, die Bauhütte der Schule u.a.m. Sind solche Quasi-Wirklichkeiten eingerichtet, verlangen sie eine Vielfalt von Aktivitäten. Ihr Merkmal aber ist, dass der didaktische Rahmen vorgegeben ist – eine Art Modellwirklichkeit –, der dann zu „füllen“ ist. Die Herausforderungen aber können groß sein.
Dritte Dimension: Situationen des entdeckenden und forschenden Lernens erlauben Erfahrungslernen. In dem Maße, wie Unterrichtsarrangements schülereigene Aktivitäten, die Eroberung von Sachverhalten zulassen, hat handlungsorientierter Unterricht eine große Chance. Versuche, aus Korn Mehl und daraus Brot herzustellen, der Bau eines Windmessgerätes, der eigene Anbau von Gemüse, der Bau eines Stromkreises, das Drucken von Texten, das Entdecken von alternativen Verhaltensmöglichkeiten gegenüber Gewalt und Aggressivität im Rollenspiel – die Beispiele deuten an, wie das Erforschen und Entdecken Handlungen provozieren, aus denen Erfahrungen entspringen und versprachlicht werden können (Bewusstmachung von Erfahrungen). Man könnte auch hier von dem wesentlichen Ansatz der Vorstrukturierung sprechen, aus denen Lernhandlungen entspringen. Insofern ist die Offenheit des Idealtypus (Erste Dimension) auch zurückgenommen.
Vierte Dimension: Handlungsorientiertes Lernen ist Vehikel für kognitives Lernen. Ein weiteres Stück Zurücknahme ist gegeben, wenn Handlungen im Grunde nur Vehikel für kognitives Lernen sind. Wenn also z. B. der Schulhof vermessen wird, um daran das Erkennen unterschiedlicher Flächenstücke, ihre Ausmessung und Addition zu praktizieren, geht es vornehmlich um die Bereitstellung einer handlungsorientierten Basis für kognitiv orientierte Operationen. Man könnte die Flächenangabe durch einen Telefonanruf schnell beim zuständigen Katasteramt erfahren. Die eigenen Strukturierungs- (Teilflächen) und Messversuche aber sollen das Problem der Flächenmessung realitätsnah und handlungsorientiert gestalten. Es ist dabei mancherlei zu überlegen und zu praktizieren.
Fünfte Dimension: Das praktische Tun nach vorgegebenem Plan und Anweisung markiert die Differenz zwischen handelndem Unterricht und handlungsorientiertem Unterricht besonders deutlich. Die Vorgaben werden massiver, das eigene Tun aber erhält genügend Herausforderungen.
Wenn Schüler*innen z. B. eine Brücke nach bestimmten Konstruktionsvorgaben (Material, Länge, Belastbarkeit) bauen sollen, liegt der Handlungsansatz in der Herausforderung, über die Realisierung der Vorgaben ein Produkt (die Brücke) zu erstellen, das diesen entspricht. Das kann gelingen, aber auch misslingen, wie Erprobungen zeigen werden. Die Reflexion kann die Ursachen für dieses oder jenes Ergebnis deutlich machen.
Sechste Dimension: Begleitende Aktivitäten haben ihr Charakteristikum darin, dass die Handlungen in Umsetzungen, Ergänzungen, Anwendungen, Verarbeitungen zunächst anders gearteter Lernprozesse liegen. Eigene Texte werden als Ergänzung zur Lektüre einer Ganzschrift verfasst. Nach dem Besuch auf einem Bauernhof werden Bilder gemalt, die die Erkundungsstationen wiedergeben. Andere Kinder bauen den Bauernhof nach. Zu einer Fibelgeschichte werden Bilder gemalt. Die Beispiele zeigen, wie diese Dimension zu verstehen ist. Der eigentliche Unterrichtsinhalt ist erarbeitet worden. Begleitende Aktivitäten schaffen einen begrenzten Handlungsrahmen, der von inhaltlichen Vorgaben bestimmt ist. Der Handlungsspielraum ist begrenzt, gibt aber immer noch genug für eigene Intentionen her.
4. Die Reichweite der Handlungsorientierung
Wer ganz von den kognitiven Intentionen herkömmlichen Unterrichts her denkt, wird unter Umständen nicht viele Chancen für handlungsorientierten Unterricht sehen. Immerhin gibt es gerade im Sprachunterricht, für den man die Möglichkeiten immer als besonders gering angesehen hatte, inzwischen eigene Ansätze (produktorientierter Literaturunterricht, mediengestützter Fremdsprachenunterricht). So dass man sagen kann, dass über die Dimensionen unterschiedlich weit reichende Ansätze sich für alle Unterrichtsfächer denken lassen. Wichtig ist, dass der qualitativ anders gefasste Lernbegriff akzeptiert werden kann, die Aufgaben- und Materialtypen entsprechend gefunden werden, mit dem Zeitrahmen flexibel umgegangen werden kann, die Lehrer*innenrolle entsprechend variiert wird (von der Vermittler- zur Beraterrolle).
Manfred Bönsch
Literatur
M. Bönsch: Allgemeine Didaktik, Stuttgart, 2006
M. Bönsch:
Produktives Lernen mit differenzierenden Unterrichtsmethoden, Braunschweig, 2013
M. Bönsch:
Variable Lernwege. Ein Lehrbuch der Unterrichtsmethoden, St. Augustin, 2018, 5. Aufl.
H. Gudjons:
Handlungsorientiert lehren und lernen, Bad Heilbrunn, 1994
I. Mann: Lernen durch Handeln, München, 1977
H. Meyer:
Leitfaden zur Unterrichtsvorbereitung, Königstein/Ts., 1980 (viele Auflagen danach)
J. Piaget: Psychologie der Intelligenz, Zürich 1947
I. Scheller:
Erfahrungsbezogener Unterricht, Königstein/Ts., 1981
B. Wilhelmer: Lernen als Handlung, Köln, 1978