LuSh – Ausgabe 02/2021 – Dies und Das – Schule und Unterricht im Krisenmodus – Handlungsbefähigungen als Chance
Schule und Unterricht im Krisenmodus – Handlungsbefähigungen als Chance
1. Einleitung
Wir sind nach einem Jahr Coronapandemie vermutlich mitten in der Krise angekommen. Shutdown und harter Lockdown stellen die gesamte Gesellschaft sowie alle Industrie- und Wirtschaftsbereiche vor eine harte Probe. Das Schulsystem und der Unterricht funktionieren nicht mehr so, wie sie es bisher gewohnt waren: Schüler*innen und Lehrkräfte finden sich im Schulunterricht immer öfter in Situationen, die neu sind, plötzlich auftreten und große Herausforderungen darstellen. Erwerbstätige Eltern befinden sich im Homeoffice und sollen gleichzeitig Homeschooling und Kinderbetreuung notdürftig organisieren. Schule auf, Schule zu – wie soll es weitergehen?
Einige Ereignisse im Zeitraffer: Am 4. Januar 2021 hat die Kultusministerkonferenz (KMK) einen Stufenplan beschlossen. Am 5 Januar 2021 haben Bund und Länder in ihrer Videoschalte den Shutdown und Lockdown verschärft und beschlossen, dass die Schulen bis Ende Januar 2021 geschlossen bleiben. Am 6. Januar 2021 gehen einige Bundesländer in Sachen Schulpolitik für die Abschlussklassen und Grundschüler bereits eigene Wege. Schüler*innen, Lehrkräfte, Schulleitungen und Eltern finden sich immer wieder in neuen unerwarteten Situationen – Ausnahmesituationen –, in denen erheblicher Handlungsbedarf besteht.
Der folgende Beitrag will den Krisenmodus in Schule und Unterricht skizzieren, theoretische Erklärungsversuche liefern und einige individuelle Handlungsbefähigungen aufzeigen, die eine Chance bieten, aus dieser Krise gestärkt herauszukommen.
Hinweise für die Leser*innen: Der Artikel wurde in der ersten Januarhälfte 2021 geschrieben und kann daher die nachfolgenden Entwicklungen und Ereignisse nicht berücksichtigen.
2. Schule und Unterricht im Krisenmodus
Im allgemeinen Sprachgebrauch wird der Terminus Krise benutzt, um ein plötzliches Ereignis bzw. eine schwierige Entwicklung darzustellen, die eine Entscheidung und entscheidende Wendung erwartet. Es bleibt allerdings offen, ob sich der Fortgang der Krise zum Besseren oder Schlechteren hin entwickelt. Die Corona-Krise macht permanent auf mögliche Gefahren und Risiken aufmerksam, gleichzeitig gibt es aber auch durch die Wissenschaft (Virologie, Epidemiologie) Hinweise, wie wir diese Krise erfolgreich bewältigen können: Maske tragen, Abstand halten und Hygienemaßnahmen konsequent beachten. Krisenmodus in Schule und Unterricht bedeutet, dass wir nach einem geeigneten Weg suchen, um aus dieser Ausnahmesituation und Notlage herauszukommen. Wir wollen einige Aspekte herausgreifen, um den Krisenmodus darzustellen:
- Schule auf, Schule zu?
Die Schule als Bildungsinstitution ist zurzeit in ihren Funktionen und Aufgabenstellungen erheblich beeinträchtigt. Fast täglich gibt es neue Erkenntnisse der Wissenschaftler und in der Folge eine Anpassung der Maßnahmen durch die Politik, speziell die Bildungspolitik. Hektik und Verunsicherungen prägen und bestimmen das Leben in der Schulleitung und Schule gerade jetzt in den Monaten Januar und Februar 2021. Ebenso erleben wir damit immer wieder den Wechsel zwischen online und offline, das Hin und Her zwischen analogem und digitalem Unterricht und das Auf und Ab zwischen stabilen und labilen Lernplattformen. Digital betrachtet sind gerade die Grundschulen und Förderschulen von der Corona-Krise kalt erwischt worden. Die Bildungspolitik befindet sich in dem Dilemma und dem permanenten Abwägen zwischen dem Recht auf Bildung und dem Schutz der Gesundheit. Darüber hinaus hält die Diskussion über die Schulen als Infektionsquellen an. Die Folge ist ein bundesweiter Flickenteppich unterschiedlicher Maßnahmen hinsichtlich der Öffnung und Schließung der Schulen bezogen auf die Differenzierung zwischen jüngeren und älteren Schülern. Zurzeit wird der ab 18. Januar 2021 angeordnete Präsenzunterricht für die Abschlussklassen heftig diskutiert und von den Gewerkschaften kritisiert. Am 12. Januar 2021 berichtet die Saarbrücker Zeitung von einem Schüler*innen-Streik gegen den Präsenzunterricht.
- Hygiene
Bereits vor der Corona-Krise war Hygiene (Hygieia = griech. Göttin der Gesundheit) ein wenig beachtetes Terrain: In nicht allen Schulen gab es fließend warmes Wasser, ausreichend Seife und Papier, um der notwendigen persönlichen Körperhygiene nachzukommen. Gerade die Hygiene ist in den Schulen ein wichtiger Aspekt der Gesundheit. Jetzt – mitten in der Corona-Krise – müssen die Hygienekonzepte in Schule und Unterricht konsequent und ohne Wenn und Aber umgesetzt werden. Mit der Beachtung der Hygienekonzepte leisten wir einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung der Pandemie, schaffen in der Schule eine gesunde Lebenswelt und im Unterricht gute Voraussetzungen für das tägliche Miteinander.
- Digitalisierung
In diesem Bereich haben wir in den letzten zehn Jahren viel geredet und faktisch ist in den Schulen wenig passiert: In nicht wenigen Schulen fehlen Hardware und Software! Gerade die jüngeren, bildungsfernen und im ländlichen Raum lebenden Schüler*innen in den Grund- und Förderschulen haben hier große Nachteile. Der Wohnort ist entscheidend, denn wir erleben ein großes Stadt-Land-Gefälle bezüglich des Internetzugangs und der WLAN-Verfügbarkeit. Zudem gibt es große Unterschiede zwischen den Privatschulen und Schulen in öffentlicher Trägerschaft, aber auch bezüglich der heterogenen Trägerschaft. Der Städtetag hat gerade vor wenigen Wochen darauf hingewiesen, dass die finanzielle Schere zwischen den armen und reichen Kommunen immer größer wird.
- Betreuungsmöglichkeiten
Die Ausnahmesituation führt dazu, dass gerade erwerbstätige Eltern durch den ständigen Wechsel der Beschulungskonzepte spontan von heute auf morgen Betreuungsmöglichkeiten für ihre Kinder organisieren und managen müssen. Viele Eltern, insbesondere alleinerziehende, befinden sich in schwierigen Notlagen. Während die Eltern selbst im Homeoffice arbeiten, müssen sie oft in beengten Wohnungen ihre Kinder im Homeschooling als Aushilfslehrer betreuen. Darüber hinaus müssen sie ihre Kinder tagsüber beschäftigen. Dies führt zu Stress, erhöhter Belastung, Verärgerung und teilweise auch Gewaltausbrüchen aller Beteiligten. Sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche leiden unter dieser Situation am meisten. Die Corona-Krise verschärft die bereits bestehenden sozialen Ungleichheiten und führt zur Notbetreuung in einer Notgruppe (Kuger/Rauschenbach 2020, 7).
- Online-Unterricht
Der Fernunterricht (Distanzunterricht, Online-Unterricht) wird in vielen Schulen durch die fehlende Hardware (keine Endgeräte für Lehrer und Schüler), das Fehlen bzw. Nichtfunktionieren von WLAN und eine wenig nutzerfreundliche Software (labile und überlastete Plattformen und Bildungsserver) erschwert oder gar unmöglich gemacht. Schülervertretungen von sieben saarländischen Schulen haben im Januar 2021 eine eigene Umfrage unter den Schüler*innen zu den gemachten Erfahrungen im ersten Lockdown im März/April 2020 durchgeführt. Als Ergebnis ist festzuhalten: Jeder zweite Schüler der 1200 befragten Schüler*innen fühlt sich im Online-Unterricht überfordert, was zur Folgerung führt, dass weder die Lernenden noch die Lehrenden auf die Situation vorbereitet waren. Es fehlen aber auch konkrete Hinweise bezüglich der Vorgaben im Online-Unterricht, wie z. B. zeitlicher Umfang der gestellten Aufgaben, Annahme- und Abgabetermine von auferlegten Arbeitsaufträgen, Kontrollmöglichkeiten hinsichtlich der Erledigung der abgegebenen Arbeiten: Handelt es sich um eine eigenständige Leistung des Schülers oder eine Arbeitserledigung durch die Eltern? Technische Probleme werden vorgegeben, wenn die Zeit und Motivation zum Lernen fehlen: Abschalten wegen unzureichenden Empfangs und defekter Hardware. Hinzu kommen Kommunikationsschwierigkeiten bei Verstehensproblemen und beim Feedback durch die Lehrkräfte, d. h., eine unmittelbare Unterstützung und Hilfe ist nicht möglich. Problematisch erscheint zuweilen auch das Sozialverhalten der Lernenden während des Fernunterrichts: Die Schüler*innen sitzen noch im Bett, liegen auf der Couch oder machen sich gerade etwas zu essen. Ebenso werden das gegenseitige Helfen beim Lernen in der Klassengemeinschaft und die zwischenmenschliche Kommunikation der Schüler*innen unter- und miteinander vernachlässigt.
- Ausnahmesituationen
Das unterrichtliche Handeln in der Schule und der geplante Unterricht sind ein Beispiel sozialen Handelns und spiegeln unter Bezugnahme auf Regeln, Interaktionen und Handeln die gesellschaftliche Realität; Durkheim spricht von „fait social“ (1980, 108). Unterricht ist vorhersehbar, planbar, kontrollierbar, beherrschbar und messbar. Wir sind von der Durchschaubarkeit der ablaufenden Lehr- und Lernprozesse überzeugt und stützen uns auf bekannte ritualisierte Unterrichtsformate und bewährte routinierte Handlungsabläufe. Wir müssen auch weiterhin an der Vorbereitung, Umsetzung und Kontrolle des Unterrichts festhalten. Doch jetzt kommt es immer wieder im Schulbetrieb und Unterrichtsgeschehen zu Überraschungen und Abweichungen des geplanten Unterrichts durch unerwartete und nicht vorhersehbare Situationen, eben zu Ausnahmesituationen. Die Schule wird geschlossen, jetzt sollen der Fernunterricht und das Distanzlernen in kürzester Zeit organisiert werden. Kisten mit Arbeitsblättern werden zum Abholen bereitgestellt oder durch Fenster gereicht, telefonische Hilfestellungen bei den Aufgaben werden angeboten, ebenso die Beratung, Kommunikation und Zusammenarbeit mit den Eltern werden besprochen, bei den jüngeren Schülern können Mails unterstützen und mit den älteren Schülern werden Videokonferenzen durchgeführt. Jetzt fehlt es der Lehrkraft an Informationen, Wissen und Erfahrungen, wie sie damit konkret und spontan umgehen soll. Für das Lehrerhandeln kann es daher nicht nur und ausschließlich standardisierte Anleitungen oder Methoden geben. Das Offene und Unvorhersehbare ist im Unterrichtsalltag präsent, d. h., Situationen im Unterricht weisen immer wieder fallspezifische Eigendynamiken auf und die Lehrenden und Lernenden sind immer wieder mit neuen, offenen und vor allem nicht erwarteten komplexen Situationen konfrontiert. Wir sollten daher grundsätzlich offener und sensibler werden für das Unbestimmte im Unterricht (Rosenberger 2018, 10). Das Bewusstsein eines „möglichen Andersseins“ (Luhmann 1987, 152) sollte im Unterrichtsgeschehen immer wieder berücksichtigt werden.
Die aktuelle Krise können wir als eine Melange von Lebenskrise, Alltagskrise, Schulkrise, Wirtschaftskrise und Bildungskrise bezeichnen. Jetzt ist das professionelle Krisenmanagement der verantwortlichen Politiker, der KMK, der Bildungsministerien, der kommunalen Entscheidungsträger und der Schulleitungen gefordert.
3. Risikokinder und Problemgruppen
Nicht erst seit der Corona-Krise haben wir es in den Schulen mit Schüler*innen zu tun, die besonderen Risiken in der Familie und in der Schule ausgesetzt sind. Der Umgang im Unterricht mit sozial benachteiligten, psycho-sozial auffälligen und beeinträchtigten Kindern und Jugendlichen war bisher auch schon eine umfängliche und komplexe Herausforderung. Die bisherigen Probleme werden durch die aktuellen Schwierigkeiten der Corona-Krise noch potenziert. Davon betroffen sind insbesondere jüngere Schüler*innen in den Grund- und Förderschulen, die auf Präsenzunterricht angewiesen sind, weil sie noch nicht lesen und schreiben können. Sie brauchen die persönliche Ansprache und gezielte Hilfe während des Lernprozesses. Hinzu kommt, dass bei nicht wenigen Schüler*innen die häusliche Betreuung und Unterstützung bei den Hausaufgaben oder bei der Vorbereitung auf einen Test oder eine Klassenarbeit nicht gegeben sind. Hier brauchen wir den kollektiven Gemeinsinn der Klasse, die Gemeinschaft der Schule und die viel beschworene Solidarität im systemischen Feld der Wirklichkeit von Schüler*innen, Lehrenden und Elternhaus. Zur Gruppe der Problemschüler*innen zählen auch die Kinder, die sich gerade vor dem Eintritt in die Grundschule befinden und auf die Schule freuen. Der Übergang in eine weiterführende Schule kann sich ebenso in besonders erschwerenden Belastungssituationen befinden. Hinzu kommen die Schüler*innen, die gerade vor schulischen Abschlüssen stehen und sich auf die Prüfungen (Hauptschulabschluss, mittlerer Bildungsabschluss, Abitur) vorbereiten. Auf die geografischen Bedingungen und speziellen Unterschiede zwischen „Stadt- und Landkindern“ ist bereits im Zuge der Digitalisierung aufmerksam gemacht worden. Gerade im Umgang mit Risikokindern und Problemschülern in den plötzlich und unerwartet auftretenden Situationen brauchen wir im Unterricht mehr als bisher freie Spielräume und Möglichkeiten im Aushandeln, was eben geht und was eben nicht. Die Lehrer*innen müssen bei der Bewältigung dieser Herausforderungen immer mehr Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe übernehmen; sie werden als Fachkräfte gefordert, wenn es um neue Auffälligkeiten und Störungen geht. Ebenso müssen die Lehrer*innen gerade jetzt in der Corona-Krise immer mehr Aufgaben der gesundheitlichen Prävention und des Gesundheitsamtes erfüllen.
4. Ideenmontage und Erkenntnistransfer
Der Physiker und Nobelpreisträger Albert Einstein (1879–1955) hat in seinen Ausführungen immer wieder darauf hingewiesen, dass erst die Theorie darüber entscheidet, was man beobachten, also hören, sehen und beschreiben kann. Generierung von theoretischem Wissen: Der Virologe als Forscher will sich einen Überblick über das Gebiet der Mikroorganismen – speziell SARS – verschaffen. SARS steht für „Schweres Akutes Atemwegs-Syndrom“; die Erkrankung, welche durch SARS-CoV-2 ausgelöst wird, wird mit Covid-19 bezeichnet (Corona Virus Disease 2019). Der Virologe beobachtet, sichtet die vorliegenden Daten, untersucht Zusammenhänge zwischen den Dingen und Personen und versucht, glaubwürdige und plausible Erklärungen zu liefern. Hier erleben wir zurzeit Tag für Tag, dass es kein gesichertes Wissen gibt. Immer wieder gibt es klinische Studien mit neuen und widersprüchlichen Erkenntnissen, wie z. B. die Diskussion um den Reproduktionswert, den anzustrebenden Inzidenzwert oder die Diskussion um den Infektionsherd Schule. Kontrovers und heftig diskutiert wird die mögliche Ansteckungsgefahr durch Schüler unter 12 Jahren und über 12 Jahre.
Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit und die soziale Realität der Corona-Krise werden durch das soziale Handeln der Menschen verursacht (Berger/Luckmann 1969). Das Tätigsein, das Aktivwerden und das konkrete Handeln der Lernenden und Lehrenden im Unterrichtsgeschehen stehen im Fokus der weiteren Überlegungen. Prozesse der Realitätsbildung basieren auf Wissen, Erfahrungen und Informationen – vor allem auf sprachlichem Wissen. Dieses Wissen wird als narratives Wissen bezeichnet, wobei zwei Formen der Wissensbeschaffung unterschieden werden: Skripts und Erzählungen (vgl. Klatetzki 2019, 35).
- Skripts sind vergleichbar mit dem Drehbuch bei Theateraufführungen oder mit dem Unterrichtsskript als schriftlicher Unterrichtsvorbereitung. Klatetzki (2019) spricht von „geskripteten“ Unterrichtssituationen, d. h., Unterricht wird in der Regel nach einem Plan (Stundenplan, Tagesplan, Wochenplan, Lehrplan) umgesetzt. Das Unterrichtsgeschehen stützt sich dabei auf routinemäßige Handlungsabläufe. Doch nicht immer laufen diese routinemäßigen Handlungen und Verhaltensweisen ohne Probleme ab: So treten immer wieder unerwartete Situationen und unerfreuliche Ereignisse auf, die den bisher gewohnten schulischen Tagesrhythmus unterbrechen und für Überraschungen sorgen. Dies gilt auch für die Notlage der Eltern beim Homeschooling, die sie als Hilfslehrer zum Daheim-bleiben zwingt. Jetzt geht es für die Lehrkraft darum, zu begreifen, was zu dem konkreten Handlungsproblem und der komplexen Situation geführt hat. Wir brauchen Wissen und weitere Daten, um helfen zu können; unterrichtliches Handeln ist soziales Handeln und basiert auf Wissen.
- Das Erzählen von Geschichten (Fallgeschichten, Lebensgeschichte) ist die zweite Form des narrativen Wissens, die ja auch von den Medizinern eingesetzt wird, wenn Patienten z. B. über ihren Krankheitsverlauf bei Covid-19 berichten (Anamnese). Über das Erzählen von persönlichen Lebensgeschichten sollte es gelingen, dass sich Schüler*innen und Eltern ungezwungen artikulieren, sich die Probleme von der Seele reden und aus ihrer Perspektive interpretieren. Wir sollten die Schüler*innen zu Wort kommen lassen und ihre Erzählung in einem Transkript festhalten. Nur so können wir wichtiges Detailwissen über die Person und ihr Umfeld dokumentieren und immer wieder nachlesen (Klatetzki 2019, 10). Gerade schreiben wir ja alle in dem „lebendigen“ Buch unseres Lebens das Kapitel „Corona“ und wir wissen nicht, wie es weitergeht und wie wir es zu Ende bringen werden.
Der Capability Approach des Philosophen und Wirtschaftswissenschaftlers Amartya Sen betrachtet die Schüler*innen nicht hinsichtlich ihrer erzielten Klassen-, Schul- und Berufsabschlüsse, sondern mehr im Hinblick auf die Möglichkeiten, Spielräume und Handlungsbefähigungen, die ihnen durch das Lernen im Unterricht ermöglicht werden. Es geht dabei um die zur Verfügung stehende Menge an differenten Handlungs- und Daseinsweisen, die es dem einzelnen Lernenden möglich machen, sich für ein erstrebenswertes und selbstbestimmtes Leben entscheiden zu können (Sen 2007). Es geht nicht nur um gesellschaftliche Erwartungen und schulische Vorgaben im Sinne der Standardisierung (Tests, Zeugnisse, Bildungsabschlüsse, Bildungsstandards), sondern um die Möglichkeiten und Spielräume, die jedem Einzelnen zur Verfügung stehen, um sein eigenes Leben sinnerfüllt zu führen: die Persönlichkeitsbildung! Die persönlichen Befähigungen im selbstbestimmten Handeln eines Schülers werden als neue Orientierung in der Pädagogik propagiert. Dabei können übergreifende Handlungsbefähigungen im Schulalltag und in den einzelnen Fächern helfen, wie z. B. der Kohärenzsinn: Wir verstehen darunter ein positives, aktives Selbstbild und die Gewissheit, sich selbst als Schüler in der Schule und im Unterricht steuern und gestalten zu können. Das persönliche Motto lautet: „Ich kann was, ich kann Dinge verändern und will auch was bewirken – ich will tätig sein und aktiv werden!“
5.
Von den Höhen der Theorie in die
Niederungen der Praxis –
Handlungsbefähigungen als Chance
Der Sprung von den Höhen der Wissenschaft (theoretisches Wissen) hinunter in die Niederungen der Praxis (praktisches Wissen) wird oft als harter „Aufprall“ wahrgenommen. Das kann jedoch vermieden werden, wenn beide Seiten sich aufeinander zubewegen und voneinander lernen: Die Wissenschaft von der Praxis und die Praxis von der Wissenschaft – es sollte also ein Geben und Nehmen sein, das wir ja gerade in der aktuellen Corona-Krise Tag für Tag erleben. Beim Unterrichten kann das folgende Schema als Hilfe dienen, das auch im Bereich der Wissenschaft als Orientierung des forschungsleitenden Erkenntnisinteresses benutzt wird (vgl. Eberhard 1987, 17 ff.):
- Was ist los im Unterricht? – Phänomenale Ebene
Wir beschreiben die aktuelle Schul- und Unterrichtssituation, die faktischen Gegebenheiten, die Ereignisse, Erscheinungsbilder und Phänomene der Schüler*innen innerhalb der Klassengemeinschaft wie z. B. die These: Eine depressive Grundstimmung in der Schule gehört zum Wesen der Corona-Krise. Beobachtungen und Deutungen lassen sich nicht immer voneinander trennen.
- Warum ist das so? – Kausale Ebene
Wir versuchen, die beschriebenen Phänomene, die eingetretenen Situationen (Notsituationen, Ausnahmesituationen) und die Ereignisse von den Ursachen her zu erklären. Dabei geht es in erster Linie um die Frage nach den Ursachen – nicht um die Schuldfrage und Schuldzuweisungen. Dabei sollten wir zwei Fragen stellen: Erstens die rückwärtsgerichtete Warum-Frage, die das bisherige Geschehen und Erlebte reflektiert, also das Erzählen der Lebensgeschichte. Zweitens geht es um die vorwärtsgerichtete Wozu-Frage, die die Handlungsbefähigungen zur Gestaltung des eigenen Lebens hinterfragt.
- Was ist zu tun? – Aktionale Ebene
Jetzt geht es um die Fähigkeiten des einzelnen Schülers, im Unterricht an dem gestellten Thema bzw. Lernstoff zu arbeiten, gemeinsam mit anderen zu handeln, mitzugestalten, sinnvoll tätig zu sein und sinnstiftend aktiv zu werden. Die Handlungsbefähigungen sind dazu da, eine plötzlich eingetretene Situation zu meistern und erfolgreich zu bewältigen, wie z. B. den Online-Unterricht zu Hause zu organisieren. Es geht um das eigene positive Selbstbild und um die Gewissheit, neue und schwierige Anforderungssituationen aufgrund eigener Fähigkeiten bewältigen zu können. Jerusalem und Schwarzer (vgl. 2002, 35) bezeichnen diese Fähigkeit als persönliche Selbstwirksamkeitserwartung. Im Unterricht erwarten wir, dass die Schüler*innen selbstwirksam handlungsfähig sind, d. h. sie können „Dinge“ beim Lernen zum Positiven hin verändern. Die Lehrkräfte sollten das vorhandene individuelle Fähigkeitspotenzial sehen und notwendige Handlungsbefähigungen aufbauen und in bestimmten Bereichen fördern.
In diesem Beitrag wollen wir einige Bereiche herausgreifen, die gerade in der aktuellen Situation Sinn machen und wo es sich lohnt, Handlungsbefähigungen (HB) im Unterricht mit den Schüler*innen aufzubauen. Das Thema Corona kann jetzt in all seinen Facetten in allen Unterrichtsfächern konkret und praktisch miteinander verknüpft werden. Bei den Schüler*innen besteht dabei technisch-medialer, kognitiver und sprachlicher Handlungsbedarf. Das theoretische Wissen der Forschungsgemeinschaft (Virologen, Epidemiologen u. a.) kann so gut mit dem praktischen Wissen der Lehrer*innen verknüpft werden. So können wir die Handlungskompetenz zur Bewältigung neuer Situationen verbessern.
- HB Corona-Sprache verstehen: Neue Vokabeln lernen!
Seit Beginn der Corona-Krise 2020 erleben wir im alltäglichen Sprachgebrauch eine regelrechte Wortschatzexplosion. Die Schüler*innen werden plötzlich mit einer Vielzahl bisher nicht bekannter Wörter, Wortverbindungen und Redewendungen konfrontiert. Sie hören und lesen Tag für Tag medizinische Fachbegriffe (Reproduktionswert, Inzidenz, vulnerable Risikogruppen), Abkürzungen (SARS, Covid-19, RKI), Anglizismen (Superspreader, Lockdown, Shutdown), deutsche Wortneuschöpfungen (Spuckschutzhaube, Corona-Kontakttagebuch, Übersterblichkeit) sowie eine metaphergeprägte Sprache der Politiker („Wir müssen die Zügel wieder anziehen!“) in ungeheurer Schnelligkeit. Diskutiert werden sollte auch das Unwort des Jahres 2021: „Corona-Diktatur“. Wir sollten den Schüler*innen beibringen, sich kritisch mit diesem Sprachwandel und dieser Informationsflut auseinanderzusetzen. Werden all diese neuen Wörter und Redewendungen auch wirklich verstanden? Das Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim hat zum Thema Corona etwa 1000 Wörter und Wortverbindungen gesammelt und online dokumentiert. Einige Begriffe sind komplett neu, andere werden durch Anglizismen ersetzt und wieder andere in neuer Bedeutung benutzt. Die Schüler*innen müssen befähigt werden, Fragen zu stellen, Wörter analog nachzuschlagen oder im Internet zu recherchieren. Hinsichtlich dieses Sprachwandels hat das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) eine eigene App installiert. Alle Schüler*innen sollten den Sinn und die Bedeutung dieser Wörter verstehen, damit sie seriöse Informationen von Fake News unterscheiden lernen. Hinzu kommt, dass einige Begriffe wie Welle (Zweite Welle, Pandemiewelle, Wellenbrecher) oder Corona-Tsunami ein Gefühl der Verunsicherung und Hilflosigkeit erzeugen können. Mit dieser Handlungsbefähigung sollten wir die Schüler*innen vor sprachlicher Überforderung schützen.
- HB Digitale Arbeitstechniken: Klicken, Mailen, Posten
Gerade jetzt kommen auf die Schule und den digitalen Unterricht als Fernunterricht und Distanzlernen neue, bisher nicht bekannte technisch-mediale Herausforderungen als unerwartete Situationen zu, die völlig überraschend, unerwartet und nicht vorhersehbar waren. Wir befinden uns in einer Ausnahmesituation. Es fehlt an Ausstattung und Know-how. Wir können nicht zurückschauen, wir müssen den Blick nach „vorne“ richten. Doch es muss dabei nicht zu einem digitalen Abenteuer kommen. In der Regel haben wir in der Klasse – je nach Lebensalter, Klassenstufe, Leistungsvermögen und Schulform abweichend – die Gruppe der Anfänger und Novizen, die gerade mit der digitalen Bildung beginnen, die Fortgeschrittenen und Durchstarter, die bereits über eine digitale Grundbildung verfügen, und die Experten und Könner, die den Lehrkräften und den Lernplattformen, Bildungsservern und Videokonferenzsystemen gewachsen, ja teilweise überlegen sind. Mit dem Klicken, Mailen und Posten sind sie auf dem Weg zur digitalen Schule. Die Medienbildung sollte analog starten und dann nach und nach Schritt für Schritt je nach Medienkompetenz der Lehrperson umgesetzt werden. So können zunächst von den Schüler*innen einfache digitale Recherchen durchgeführt und die Lehrkräfte bei der Auswahl und Differenzierung des Lernstoffs unterstützt werden. Die Schüler*innen lernen, sich die Zeit einzuteilen, sich selbst die Materialien zu besorgen und ein Thema zu Ende zu bringen. Per Fingerwisch kann ich mir in kürzester Zeit Wissen aneignen.
- HB Verknüpftes Lernen: Lernen fürs Leben!
Wir können den Unterricht lebensnah und authentisch gestalten, indem wir das Thema „Corona-Krise“ als ein schuljahrübergreifendes persönliches und schulisches Projekt verstehen und so behandeln, dass alle Unterrichtsfächer einen wichtigen Beitrag zum Thema Corona leisten können. Wir können sogar die wenig beliebten Fächer wie Chemie, Physik, Biologie und Mathematik mit dem Alltagsthema verknüpfen und Inputs zum sinnvollen Arbeiten und Üben anbieten – denken wir nur an die täglichen Zahlen und Statistiken mit Reproduktionszahl oder dem Inzidenzwert. So kann jeder Schüler einen eigenen Beitrag zum Thema aus seiner Perspektive und persönlichen Betroffenheit heraus erbringen. Kein Lehrplan und kein Schulbuch hatte doch dieses Thema im Blick. Die Vielfalt und Breite kann im Unterricht ein Vorteil sein, während die Einfalt und Eindimensionalität den Blick verengt. So haben Forscher aus sechzig verschiedenen Ländern in der Firma Biontech in Mainz gemeinsam den Impfstoff in nur einem Jahr erforscht, klinisch auf Wirksamkeit und Sicherheit untersucht und produziert. Das ist doch ein Beispiel par excellence für das fächerübergreifende und verknüpfte Lernen: Alle Schüler*innen fassen ihr Wissen über das Virus, die Ansteckung, die Krankheit und den Krankheitsverlauf und die möglichen Spätfolgen schriftlich zusammen; ebenso können die einzelnen Unterrichtsfächer ihre speziellen Kenntnisse zur komplexen Thematik beitragen.
- HB: Eigene Lebensgeschichte erzählen: Wir wissen einfach zu wenig über die Schüler*innen!
Es geht um plötzlich eintretende unerwartete Situationen, die das bisherige Skriptwissen und die gewohnten Handlungsabläufe „auf den Kopf stellen“ und unwirksam werden lassen. Wir sollten die Schüler*innen mehr zu Wort kommen lassen und ihre eigene bisherige Lebens- und Lerngeschichte erzählen lassen. Erst eine Geschichte macht Ereignisse verständlich, indem das Geschehen in einer chronologischen Abfolge und Kausalverbindungen zwischen den Ereignissen erklärt werden. Erst wenn ein Geschehen verstanden wird, sprechen wir von Sinnstiftung. „Verpasster Stoff“ lässt sich in Corona-Zeiten durchaus schnell nachholen, wenn wir über das individuelle Lernverhalten des Schülers, seinen familiären Hintergrund, seine Spielräume und Möglichkeiten, seine häusliche Hilfe und Unterstützung mehr Wissen besitzen. Dieses praktische Wissen wird oft durch den Datenschutz erschwert oder gar verhindert. Wer lebt mit dem Kind im Elternhaus, hat es Geschwister, Großeltern oder helfende Eltern oder lebt es mit seiner Mutter allein in einer sehr beengten Wohnung ohne Internetanschluss und Tablet? Das Erzählen der eigenen Lebensgeschichte (Gespräch, Interview) kann hier weiterhelfen, insbesondere dann, wenn eine Transkription angefertigt wird. So werden wichtige Aussagen für die Lehrkraft dokumentiert und können jederzeit bei der Unterrichtsvorbereitung, der Aufgabenverteilung und notwendigen Schüler- und Elterngesprächen nachgelesen und berücksichtigt werden. Wir müssen mit den Schüler*innen Hürden überwinden (fehlender Laptop und Internetanschluss) und gemeinsam Durchhaltevermögen aufbringen, wie ein 12-jähriger Schüler in einem Interview bemerkt: „Neu gelernt habe ich, wie stark und geduldig man in so einer schwierigen Situation sein kann.“
6. Resümee
Lernende, Eltern und Lehrende befinden sich immer wieder in neuen unerwarteten Ausnahmesituationen, in denen erhöhter Handlungsbedarf besteht. Wir sollten die Schüler*innen daher befähigen, verknüpft und crossmedial zu lernen und den ständigen Wechsel von analogem und digitalem Lernen zu organisieren und zu managen. Sie sollten in die Lage versetzt werden, selbstbestimmt, eigenständig und selbstwirksam zu handeln. Das klingt schwierig, ist aber in kleinen Schritten und mithilfe der Lehrer*innen und Eltern gerade in dieser Situation machbar. Dazu brauchen die Schüler*innen je nach Alter, Klassenstufe und Schulform abweichend passgenaue Handlungsbefähigungen. Schule und Unterricht brauchen dringend die notwendigen digitalen Rahmenbedingungen, dann können sie eine adäquate Online-Didaktik und virtuelle Unterrichtsmethodik als Alternative zum herkömmlichen analogen Unterricht entwickeln. Analoger Unterricht und digitales Lernen sollten sich ergänzen. Wir alle werden aus dieser Krise und Jahrhundert-Pandemie lernen.
Herbert Günther
Literatur:
Berger, P. / Luckmann, T. (1969): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt am Main: Fischer.
Biermann, C. (2020): Mathematik – Lieblingsfach oder Trauma? In: Gemeinsam lernen 1, S. 44–49.
Durkheim, E. (1980): Die Regeln der soziologischen Methode. Darmstadt: Luchterhand.
Eberhard, K. (1987): Einführung in die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. Stuttgart: Kohlhammer.
Gold, J. / Zentarra, D. (2020): Handlungsbefähigungen am Ende der 10. Klasse. In: Gemeinsam lernen 6. G. Heft 1, S. 80–85.
Klateztki, T. (2019): Narrative Praktiken. Weinheim und Basel: Beltz Juventa.
Kuger, S. / Rauschenbach, T. (2020): Im Griff der Pandemie. In: DJI Impulse, 2, S. 5–9.
Luhmann, N. (1987): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Sen A. K. (2007): Ökonomie für den Menschen: Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft. München: Deutscher Taschenbuch Verlag.
Rosenberger, K. (2018): Unterrichten: Handeln in kontingenten Situationen. Weinheim und Basel: Beltz Juventa.
Schwarzer, R. / Jerusalem, M. (2002): Das Konzept der Selbstwirksamkeit. In: Jerusalem, M. / Hopf, D. (Hrsg.): Selbstwirksamkeit und Motivationsprozesse in Bildungsinstitutionen, Weinheim und Basel: Beltz, S. 28–53.